Wie klein der Mensch ist am Meer! Auch an dieser Bucht mit diesem tiefblauen Ozean ist Ernest Hemingway gewesen. Der Pazifik vor Acapulco, Mexiko. Foto: W. Stock, 1992.

Das Leben dieses Schriftstellers erschließt sich über das Meer. Das Meer hat mein Schreiben beeinflusst wie nichts anderes, meint Ernest Hemingway. La Mar es la gran influencia en mi vida. Das Meer sei der entscheidende Einfluss auf sein Leben. Er sagt es dem kubanischen Fernsehreporter Juan Manuel Martínez auf Spanisch, der ihn auf Finca Vigía interviewt, nachdem die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises die Runde gemacht hat. 

Trato de comprender la mar, formuliert Ernest Hemingway bei dieser Gelegenheit im kubanischen Fernsehen, ich versuche, das Meer zu verstehen. Ein Schriftsteller will das Meer verstehen. Diese Auffassung überrascht, denn die meisten Autoren wollen die Welt verändern oder zumindest den Menschen ergründen. Ernest Hemingway indes will das Meer verstehen. 

Darum zieht es ihn an Orte, die dem Meer nahe sind. Nach Finca Vigía, nicht weit von Cojímar und dem Golfstrom, nach Venedig, wo sich sein Zimmer im Gritti gleichsam weit in das adriatische Meer schiebt, nach La Cónsula bei Málaga, an die Sonnenküste Andalusiens, nach Barcelona am Mittelmeer, nach Acapulco in Mexiko, nach Cabo Blanco am Pazifik Perus, nach Key West, das ja ebenfalls umrahmt wird vom Meer. 

Sein Wunsch ist immer und überall, nahe dem Meer zu leben. Deshalb liebt er jene Landstriche, die ohne das Meer nicht vorstellbar sind. Der Autor fühlt sich angenommen in den Städten am Meer, die ihre eigene Tradition hochhalten und dennoch den offenen Brückenschlag in die Ferne bilden. Ich bin ein Mann des Meeres, pflegt er zu sagen und man hört diesen Satz oft von ihm. Auch in vielen seiner Werke singt er das Loblied auf das große Meer. 

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, wie liebevoll und wie zärtlich dieser Rabauke und Trunkenbold über das Meer und über den Menschen am Meer schreiben kann. Er will das Meer verstehen. Ersetzen wird den Begriff Meer doch einfach durch den Begriff Evolution. Ernest Hemingway will das Wunder des Lebens ergründen. Damit er sich auch selber versteht. Das Meer trägt Geburt und Heilung in sich, es ist das Thema seines Schreibens. Leben und Untergang. Die Gesetzmäßigkeit dieses Kreislaufes der Natur, das Werden und Vergehen, das will er enträtseln und verstehen. 

Ernest Hemingway selbst wird am Meer ein anderer Mensch, vielleicht wird er hier auch erst so richtig zum Menschen. Die Zeit, die ich auf dem Meer vor den spanischen, afrikanischen und kubanischen Küsten verbracht habe, ist die einzige Zeit, die ich nicht verschwendet habe. Er kann sich so wunderbar erfreuen am Geheimnis des Daseins, ganz nahe am Meer, ganz nahe an sich.

So schön überfällt einen das Meer. Mit der Zeit wird man leichtsinnig am Ozean, auch sinnlich und draufgängerisch. Man nimmt endlich wieder den eigenen Körper wahr und entwickelt eine neue Lust am Leben. Deshalb fühlt sich Ernest Hemingway auf Kuba so wohl. Die Glut der Sonne kitzelt so manch verschüttete Begierde, der Mensch begibt sich in jene so selbstverständliche Natürlichkeit, die nur ein Ort am Meer ausstrahlen kann. Man muss nur den Mut aufbringen, sich in diese Körperlichkeit fallen zu lassen.

Wenn man länger am Meer lebt, dann kann man leicht ausgelassen, bisweilen gar zügellos werden. Und so mag ein Autor wie Ernest Hemingway an den Tagen am Meer auch den thematischen Kontrapunkt zu den dunklen Flecken seines Lebens finden. Am Meer vermag er die düsteren Wolken zu vertreiben. Der Himmel hellt sich auf. Zurück kommt die reine Lebenslust, die man in dieser ungetrübten Form nur am Meer zu erspüren vermag. 

Dies ist ein ganz anderer Kosmos als der im Schreibstübchen. Das Leben wird nicht mehr zwischen zwei Buchdeckeln gepresst, die Sinnlichkeit verpufft nicht hinter morschen Metaphern und flachen Allegorien. Von Kindesbeinen an hat der Naturbursche diese Welt da draußen begriffen. Der Leichtsinn und der Übermut des Lebens finden besonders am Meer und im Hier und Jetzt statt. Nur am prächtigen großen Wasser kann sich die arme Seele erholen. Woanders, da ist Ernesto verloren.

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