Von Ende September bis Mitte Oktober 1922 weilt Ernest Hemingway in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Er bleibt lange in seinem Hotelzimmer, denn er ist an Malaria erkrankt, und er nimmt nur wenige Pressetermine wahr. Der amerikanische Korrespondent für den Toronto Daily Star schreibt in der Metropole am Bosporus zudem wenig. Zwei Artikel in den ersten zehn Tagen, das ist schwach für Ernest Hemingway. All die Widrigkeiten in der Grenzlage zwischen Morgen- und Abendland werden zu einer unerwarteten Herausforderung für den Amerikaner.
Später, als er in Ostthrakien, dem europäischen Teil der Türkei, umherreist, wird er zu altem Fleiß zurückfinden. Das war der Tag, an dem er zum ersten Mal tote Männer in weißen Ballettröckchen und mit Pompons geschmückten Schnabelschuhen gesehen hatte. Die Türken waren pausenlos in kleinen Haufen vorgerückt, und er hatte die berockten Männer laufen und die Offiziere in sie hinein feuern und sie dann selbst davonlaufen sehen, und er und der britische Beobachter waren auch gelaufen, bis seine Lungen schmerzten und er einen Geschmack im Mund hatte wie von Kupfermünzen, und als sie sich hinter ein paar Felsen ausruhen wollten, rückten die Türken immer noch weiter in kleinen Haufen nach.
Mustafa Kemal, dem Oberbefehlshaber der türkischen Befreiungstruppen, ist es im August 1922 in der Schlacht bei Dumlupinar gelungen, die griechischen Truppen in die Flucht zu schlagen. Am 11. Oktober schließen Türken und Griechen einen Waffenstillstand. Griechenland, das auf der Seite der Entente gegen das Osmanische Reich gekämpft hat, muss die besetzen Teile Kleinasiens und das europäische Gebiet der Türkei räumen, inklusive der Hauptstadt Konstantinopel.
Ernest Hemingway bekommt keinen Zugang zu diesem Konflikt. Er sieht ihn aus seiner westlichen, christlichen und griechenfreundlichen Perspektive. Dass eine Reform der osmanischen Tradition eingeläutet werden wird, dafür fehlen dem Amerikaner die Antennen. Seine Reportagen sind deshalb mehr als ein Faszinosum aus einer fremdartigen Welt angelegt, die Distanz und manchmal auch die Sprachlosigkeit bleiben spürbar. So schnell sich beispielsweise Spanien ihm erschließt, so unvertraut bleibt ihm der Orient.
Nur schwer findet der Korrespondent sich zurecht in diesem unübersichtlichen Durcheinander. Sein Ausblick bleibt pessimistisch. Ein Mitglied der anatolischen Regierung sagt mir, Konstantinopel werde so dröge sein wie die asiatische Türkei, wo Alkohol nicht importiert werden darf, hergestellt oder verkauft werden darf. Kemal hat auch das Kartenspiel verboten und das Backgammon und die Cafés in Bursa sind um acht Uhr abends dunkel. Diese Hingabe zu den Gesetzen des Propheten hält Kemal nicht davon ab, ihn persönlich wie seine Mitarbeiter, ihren Alkohol so zu mögen wie ein Amerikaner.
Mustafa Kemal Pascha, der später Kemal Atatürk genannt wird, wird zum Begründer der Republik Türkei, zu deren ersten Präsidenten von 1923 bis 1938 und zum Architekten einer modernen westlich orientierten säkularen Gesellschaft. Der Korrespondent Ernest Hemingway wird vollkommen schief liegen mit seiner Einschätzung dieses türkischen Politikers.
Fünfzehn Tage wird der griechischen Bevölkerung eingeräumt, Ostthrakien zu verlassen. Die griechischen Truppen zerstören auf ihrem Rückzug zahlreiche türkische Städte und Dörfer. Es kommt zu Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen und zu Massakern auf beiden Seiten. Zehntausende von Griechen verlassen Ostthrakien, Tausende sterben auf der Flucht. Das Griechentum in Kleinasien mit einer über 2.500 Jahre alten Tradition wird beendet, ebenso wie das Osmanische Reich nun Geschichte ist.
Wegen seiner Krankheit fährt Hemingway nicht nach Mudanya am Marmarameer, in jene Stadt, in der das Waffenstillstands-Abkommen beschlossen wird. Er besucht stattdessen Muratli, wo er bedrückt ist über die endlosen Flüchtlingszüge der Griechen durch Ostthrakien nach Westthrakien und Mazedonien. Das Elend der Flüchtlinge lässt ihn am Krieg zweifeln, der bis dahin für ihn immer ein glorreicher Kampf gegen das Böse gewesen ist. Doch nun sieht er die verheerenden Folgen eines Krieges erstmals mit eigenen Augen.
In einem atemlosen nie endenden Marsch frisst sich die christliche Bevölkerung von Ostthrakien über die Straßen in Richtung Mazedonien. Die größte Menschenschlange, die bei Adrianopel den Maritza-Fluss überquert, ist zwanzig Meilen lang. Zwanzig Meilen von Karren, die von Kühen, Ochsen und schlammigen Wasserbüffeln gezogen werden, mit erschöpften, taumelnden Männern, Frauen und Kindern, Decken über den Köpfen, die blind im Regen neben ihren weltlichen Gütern entlang stampfen.
Niedergeschlagen reist er ins Dreiländereck der Türkei mit Griechenland und Bulgarien. Am 18. Oktober 1922, in der Nacht, besteigt er im Karaağaç-Bahnhof von Edirne, das früher Adrianopel hieß, den Orient-Express nach Frankreich. Jetzt sah er vor seinem inneren Auge einen Bahnhof in Karaağaç, und er stand da mit seinem Bündel, und jetzt zerschnitt der Scheinwerfer des Simplon-Orient-Express die Dunkelheit, und er ließ Thrakien nach dem Rückzug hinter sich. Und Ernest Hemingway fährt, immer noch fiebrig von der Malaria und verlaust, zurück zu seiner Ehefrau nach Paris.