Ein Steinwurf von der neuen Wohnung entfernt liegt die kleine Place de la Contrescarpe.
Foto: W. Stock, Oktober 2022.

Nach drei Wochen im Hôtel Jacob et d’Angleterre in Saint-Germain hat der Freund Lewis Galantière eine preiswerte Wohnung für die Hemingways gefunden. Das schmucklose Appartement in der Rue du Cardinal-Lemoine 74 liegt im Arbeiterdistrikt des 5. Arrondissement und kostet nur 250 Francs im Monat. Am 9. Januar 1922 zieht das Ehepaar in diese einfache Wohnung des Quartier Latin.

Die neue Unterkunft des Ehepaares, man erreicht sie über enge Stufen aus Holz, ist in die Tage gekommen und riecht muffig. Die zwei winzigen Zimmer verfügen über keine Heizung und kein Warmwasser. Die Toilette für jedes Stockwerk, eine Latrine mit zwei Fußabtritten, befindet sich außerhalb im Treppenhaus. Besonders in den Sommermonaten stinkt das gesamte Haus nach Kloake, denn erst nachts werden die Sickergruben von Fäkalien-Kutschern entleert. 

Das Portemonnaie sitzt nicht gerade locker bei dem Ehepaar, die beiden leben von seinem Korrespondentenvertrag und den Erträgen einer kleinen Erbschaft von ihr. Doch die jungen Amerikaner haben kein Problem damit, ihre Ansprüche im teuren Paris herunterzuschrauben. Im Gegenteil, sie finden Gefallen an dem spartanischen und unverwöhnten Leben in dem teils studentisch geprägten Viertel.

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In der Rue Cardinal Lemoine 74, auf der dritten Etage, wohnen Ernest und Hadley Hemingway anderthalb Jahre. Foto: W. Stock, Oktober 2022.

Unser Zuhause in der Rue Cardinal-Lemoine war eine Zwei-Zimmer-Wohnung, die kein Warmwasser hatte und kein Wasserklosett; wir hatten nur einen antiseptischen Behälter, eigentlich ganz komfortabel für jemanden, der in Michigan an einen Abort im Freien gewöhnt war.

Direkt vor der Haustür, keine 50 Meter entfernt, liegt die Place de la Contrescarpe. Auch das Café des Amateurs befindet sich dort, seit längerem heißt es Café Delmas. Der Arztsohn aus Chicago meidet diese Lokalität, denn im Amateurs treffen sich die Arbeiter, die Säufer und die leichten Mädchen der Marktstrasse Rue Mouffetard, die an der Place vorbei führt.

Vor dem Haus ist heute Asphalt statt Pflasterstein ausgelegt, eine Metro an der Ecke zur Rue Monge, 200 Meter östlich, bindet das Viertel an die Innenstadt. In diesen Tagen gilt die Rue du Cardinal-Lemoine als etwas salopper Distrikt für die Künstler, Studenten und Intellektuellen der Stadt, etwas heruntergekommen, aber mit dem typischen Pariser Esprit.

Heute besteht die Wohnung auf dem dritten Stockwerk, sie hat die Nummer 3 im Haus, aus zwei Zimmern und einer winzigen Küche. Es gibt Elektrizität, fließend Wasser, Heizung und eine Innentoilette. Alles Annehmlichkeiten, die das frisch vermählte Ehepaar Hemingway Anfang der 1920er Jahre nicht gekannt hat. 

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Eine Marmorplatte links neben dem Hauseingang erinnert an den bekannten Bewohner. Foto: W. Stock, Oktober 2022.

Eine Plakette aus Marmor an der Hauswand erinnert in diesen Tagen an den berühmten Mieter aus den USA. Von Januar 1922 bis August 1923 hat der amerikanische Schriftsteller und seine Ehefrau Hadley auf der dritten Etage dieses Gebäudes gelebt. Und die Tafelinschrift endet mit einem Zitat aus Paris – Ein Fest fürs Leben: So war das Paris unserer Jugend, als wir sehr arm und sehr glücklich waren.

Weil die Wohnung recht klein ausfällt, mietet Ernest im Frühjahr 1923 in der Nähe in einem alten Hotel in der Rue Descartes 39 ein Einzelzimmer, das ihm fortan als Schreibstube dient. Die Kammer im obersten, sechsten Stockwerk besitzt eine dramatische literarische Vorgeschichte. In dem Raum ist der Poet Paul Verlaine 25 Jahre zuvor verstorben.

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In einem Hotel mietet sich Ernest ein Arbeitszimmer. Es ist jener Raum, in dem der Dichter Paul Verlaine gestorben ist. Beide Jahresdaten der Inschrift sind falsch. Foto: W. Stock, Oktober 2022.

Die Wohnung und das Arbeitszimmer gehen ins Geld. Obwohl Paris für dollarschwere Amerikaner billig ist, muss das junge Ehepaar rechnen. Jede Ausgabe wird genau überlegt. Ich könnte das Zimmer aufgeben im Hotel, wo ich schrieb, und dann war nur die Miete für die Rue Cardinal-Lemoine 74 zu bezahlen, die geringfügig war.

Neben dem Journalismus versucht sich der Mann aus Chicago nun auch an Kurzgeschichten und Gedichten. Früh am Morgen, meist schläft Hadley noch, macht er sich auf zu seiner Arbeitskammer. Es waren sechs oder acht Treppen hinauf bis zum obersten Stockwerk, und es war sehr kalt, und ich wußte, wieviel ein kleines Bündel Reisig kosten würde. Den ganzen Vormittag brütet Ernest über den Manuskripten und kommt erst zum Mittagessen in die gemeinsame Wohnung.

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