Die Rue Norte-Dame-des-Champs läuft teils parallel zum munteren Boulevard du Montparnasse. Foto: W. Stock, Oktober 2022.

Eine schöne Nachricht für das Ehepaar Hemingway: Der Sohn John Hadley Nicanor, kurz Bumby genannt, kommt am 10. Oktober 1923 bei einem mehrmonatigen Aufenthalt im kanadischen Toronto zur Welt. Hadley Richardson, sie ist 31 Jahre alt, freut sich auf ihre neue Rolle als Mutter. Auch der 24-jährige Ernest ist angetan, fürchtet zugleich, der Nachwuchs könne seine Freiheit als Schreiber und Mann einschränken.  

Die Sehnsucht nach der Stadt an der Seine ist zu stark. Im Dezember 1923 kündigt der umtriebige Journalist seinen Interims-Job als staff writer beim Toronto Daily Star, er hat es vier Monate in der Metropole am Lake Ontario ausgehalten. Den jungen Hemingway zieht es wieder ins quirlige Paris. Mit Ehefrau Hadley und dem Baby Bumby reist der angehende Schriftsteller im Januar 1924 zurück nach Frankreich.

Nach ihrer Ankunft in Paris leben sie zunächst für ein paar Tage in dem geräumigen Apartment des Kollegen Ezra Pound und seiner Frau Dorothy in der Rue Notre-Dame-des-Champs 70. Doch Hadley gefällt es überhaupt nicht in der Erdgeschoss-Wohnung der Pounds, die Wohnung kommt ihr dunkel vor und sie fühlt sich eingeengt.

Anfang Februar 1924 bezieht die dreiköpfige Familie eine eigene Unterkunft in der selben Strasse, in der Rue Notre-Dame-des-Champs Nummer 113. Die neue Wohnstätte im zweiten Stock ist größer und moderner als ihre alte in der Rue Cardinal-Lemoine. Das Viertel mit seinen breiten Strassen und den klassizistischen Bauten im 6. Arrondissement ist teuer, in diesem Teil der Stadt residiert das wohlhabende Bürgertum von Paris. 

Berühmte Maler und Schriftsteller haben in der eleganten wie diskreten Rue Notre-Dame-des-Champs gewohnt. Victor Hugo, ein Monument in Frankreich, mit ähnlicher Bedeutung wie Goethe in Deutschland. Auguste Renoir hatte in der Strasse sein Atelier, ebenso wie Fernand Léger, Paul Cézanne bewohnte hier ein Apartment, auch die Bildhauerin und Malerin Camille Claudel. Die Gegend entwickelte sich zur Künstlermeile, jedenfalls von Künstlern, die es bereits nach ganz oben geschafft hatten.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist NorteDameDesChamps117-768x1024.jpg

Großbürgerliche Fassaden bestimmen das Straßenbild der Rue Notre-Dame-des-Champs. Foto: W. Stock, Oktober 2022.

Der Mietpreis der Hemingway’schen Wohnung beträgt 650 Francs im Monat, fast das Dreifache ihrer alten Bleibe im Quartier Latin. Die hohe Miete ist dennoch vergleichsweise günstig für dieses vornehme Viertel. Die Wohnung ist allerdings nur deshalb bezahlbar, weil sie einen wahrnehmbaren Nachteil aufweist: Sie liegt über einer Sägerei und ist tagsüber sehr laut.

Die Rue Notre-Dame-des-Champs läuft ein Stück parallel zum Boulevard du Montparnasse und befindet sich inmitten der Pariser Lebhaftigkeit. Auch sind es nur wenige Schritte zum Jardin du Luxembourg und zu Gertrude Steins Literarischem Salon in der Rue de Fleurus. Und das beste: Von der neuen Wohnung sind es keine zwei Minuten zur La Closerie des Lilas, wo der Schriftsteller aus Chicago stundenlang sitzt und schreibt. 

Es war ein wunderschöner Abend, und ich hatte den ganzen Tag schwer gearbeitet und verließ die Wohnung über der Sägemühle und ging hinaus über den Hof mit dem aufgestapelten Bauholz, schloß die Tür, überquerte die Straße und ging durch die Hintertür in die Bäckerei, die auf den Boulevard Montparnasse hinausging.

Das Haus Nummer 113, in dem das Ehepaar Hemingway mit Sohn John gewohnt hat, existiert nicht mehr. Es musste dem Neubau einer Privatschule weichen, nun residiert hier die Kaderschmiede École Alsacienne. Wenn man in die benachbarte Nummer 117 hineingeht, mag man einen Eindruck gewinnen, welche Kultiviertheit bereits vor hundert Jahren hier geherrscht haben mag.

Dieses Bild hat ein leeres Alt-Attribut. Der Dateiname ist RueNorteDame113-1024x768.jpg

Hemingways Haus in der Rue Notre-Dame-des-Champs Nummer 113 musste einem Neubau weichen. Foto: W. Stock, Oktober 2022.

Beruflich geht Ernest voll ins Risiko. Seinen Vertrag als Europa-Korrespondent beim Toronto Star hat er gekündigt, um sich ganz und gar der Schriftstellerei zu widmen. Ohne das Honorar der kanadischen Zeitung wird es nun eng bei den Hemingways, zumal Hadleys geerbter Treuhandfonds in jenen Monaten nur spärliche Renditen abwirft.

Trotz Wirtschaftskrisen und sozialer Konflikte in aller Welt lässt der Tausendsassa sich nicht beirren, ohne einen Verleger schreibt Ernest fleißig an seinen Kurzgeschichten und an seinem ersten großen Roman, der in Frankreich und Spanien spielt. Nebenbei verdient der stämmige Autor sich ein paar Francs beim Boxen als Sparringspartner von Schwergewichtlern. 

Zweieinhalb Jahre, bis August 1926, lebt das Ehepaar mit Sohn John in dem Apartment in der Rue Notre-Dame-des-Champs. Im Winter zuvor hat Ernest seine Ehefrau rotzfrech mit der gemeinsamen Freundin Pauline Pfeiffer betrogen, einen anderen Seitensprung zuvor hatte die tapfere Hadley ihm bereits verziehen. Nun erfährt Hadley im April 1926 von der neuen Affäre, der Schriftsteller springt da schon zwischen seiner Ehefrau und seiner Geliebten.

Nach Wochen mit Hoffnung

Loading