Die Telefonkarte der Gertrude Stein in Paris.

Am 8. Februar 1922 besuchen Ernest Hemingway und seine Ehefrau Hadley Richardson die amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein, sie sind zum Nachmittagstee eingeladen. Das junge Ehepaar ist neu in Paris, mit einem Empfehlungsschreiben des Schriftstellers Sherwood Anderson werden dem unbekannten Journalisten die Türen zu der wohlhabenden Kunstsammlerin geöffnet.

Gegen 17 Uhr treffen die Hemingways in dem Apartment in der Rue de Fleurus 27 ein, wo Gertrude Stein mit ihrer Lebensgefährtin Alice Toklas lebt. Stein ist zu jenem Zeitpunkt 48 Jahre alt, Ernest Hemingway gerade mal 22. Es wird der erste Besuch von vielen, Gertrude Stein nimmt fortan die Rolle einer Mentorin ein für den jungen Mann aus Chicago, ein wenig vielleicht auch die Mutterrolle in der Fremde.

Gertrude Stein ist selbst eine Schriftstellerin, zwar mit mäßigem Erfolg, doch von ungeheuerem Fleiß und mit Mut zur Innovation. Sie veröffentlicht originelle Erzählungen und Bühnenwerke, auch der Umfang ihres Briefwechsels bleibt beachtlich. Mit ihrer experimentellen Erzählweise – wie in ihrem über tausend Seiten dicken Hauptwerk The Making of Americans. Geschichte vom Werdegang einer Familie – setzt sie sich über die üblichen grammatikalischen Konventionen hinweg, verzichtet weitgehend auf Satzzeichen und baut endlose Variationen und Satzwiederholungen ein.

Eine neue Welt für Ernest Hemingway. Eigentlich ziemlich grün hinter den Ohren, durchlebt der 22-Jährige während seiner sechs Jahre in Paris eine dreifache Wandlung. Er wird vom Amerikaner zum Weltbürger, er wechselt vom Journalismus zur Schriftstellerei und er wandelt sich vom Zyniker zum Romantiker. Die Metamorphosen des Ernest Hemingway haben vor allem mit den Menschen zu tun, die in Paris zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis gehören.

In ihrem literarischen Salon schart Frau Stein die experimentierfreudigen Künstler jener Zeitepoche um sich, interessante Menschen mit spannenden Ideen. Die Maler Pablo Picasso, Henri Matisse und Georges Braque gehen bei ihr ein und aus, auch die Schriftsteller Ezra Pound, F. Scott Fitzgerald und James Joyce oder die Komponisten Darius Milhaud und Arthur Honegger. Zu ihnen gesellt sich ab Februar 1922 dieser unbekannte Journalist aus Chicago namens Ernest Hemingway, der hochgewachsene Korrespondent für die kanadische Tageszeitung Toronto Star fällt auf durch ein gesundes Selbstbewusstsein und höhere Ambition.

Die Mäzenin aus Pittsburgh ist eine Person von Einfluss und Erfahrung in den Pariser Künstlerkreisen, sie findet Gefallen an dem kernigen Kerl und fördert seine Begabung als Autor. Die bodenständige Hadley allerdings wird mit der eigenwilligen Künstlerin nicht warm und fühlt sich in deren Gesellschaft unwohl. Sprachlos reagiert sie, als Gertrude Stein vorschlägt, Hadley solle ihr schönes langes Haar doch kurz schneiden lassen. Ernest hingegen, in der Engstirnigkeit von Oak Park aufgewachsen, amüsiert die Blickerweiterung, auch die erotische, die Paris zu bieten hat.

Gertrude Stein wird zu einer klugen Lehrmeisterin für Ernest. Sie liest seine Entwürfe, korrigiert, regt Verbesserungen an. Als sie das Manuskript Up in Michigan durcharbeitet, bezeichnet sie es als unpublizierbar. Gertrude Stein hält Hemingways Schauplätze für passé, das meiste spielt sich in der Seenlandschaft des ländlichen Nordens seiner Heimatregion ab. Er möge doch nicht über Themen schreiben, die keiner lesen will. Vielmehr solle er sich mit dem Neuen befassen, das er im lebhaften Paris und in Europa vorfinde.

Darüber hinaus sensibilisiert sie Hemingway für die Wichtigkeit der Wörter, erklärt ihm die Bedeutung von Wortwiederholungen, drängt ihn zu einer minimalistischen Erzählweise, seine lakonischen Sätze zeigen ihren Einfluss. Ernest Hemingway lernt schnell, ab 1924 ist er nicht mehr auf die Ratschläge der Frau Stein angewiesen, seine Sicht der Dinge, seine Themenkreise und sein Stil beginnen sich zu festigen.

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Gertrude Stein mit dem Hemingway-Baby John, Paris 1924. Credit Line: Public Domain.

Privat vertieft sich die Freundschaft zunächst. Gertrude Stein und Alice Toklas werden Taufpatinnen von Sohn John, der 1923 geboren wird und in Paris aufwächst. Liebevoll kümmert sich das lesbische Paar um den Sprössling der Hemingways, geht mit ihm spazieren, besucht die Spielplätze und die Parks, wie den Jardin du Luxembourg, der von der Rue de Fleurus um die Ecke liegt.

Gertrude Stein erkennt klar und deutlich Ernests Potential als Romancier und Buchautor. Einen Zeitungsreporter sieht sie in ihm nicht, verschwendetes Talent. Als der Mittzwanziger die nicht einfache Entscheidung treffen muss, mit dem Journalismus aufzuhören und seinen lukrativen Korrespondentenvertrag zu kündigen, ermuntert sie ihn. 

Die Freundschaft zerbricht nach wenigen Jahren, 1926 verkracht sich Ernest mit Gertrude, es sind typische Empfindlichkeiten sensibler Künstlerseelen, beidseitig. Hemingway ruft der untersetzten und fülligen Frau in Paris – Ein Fest fürs Leben überaus Ungalantes hinterher. Miss Stein war sehr dick, aber nicht groß, und kräftig gebaut wie eine Bäuerin. Er lästert, Gertrude Stein erinnere ihn an eine norditalienische Bauersfrau. Sie redete unaufhörlich, anfangs vor allem über Leute und Orte.

In seinem Buch Tod am Nachmittag aus dem Jahr 1932 bedenkt Hemingway sie mit einer krummen Widmung. A bitch is a bitch is a bitch is a bitch. Eine Schlampe ist eine Schlampe ist eine Schlampe ist eine Schlampe. Wer gemeint ist, ist den Kennern der Materie klar. Denn der Schriftsteller karikiert den berühmten Ausspruch Gertrude Steins: „A rose is a rose is a rose is a rose“. Es ist Hemingways gehässiger Spott, den er immer wieder herausholt, wenn er mit einer Sache oder einer Person abschließen will. Für den ungeduldigen Burschen ist es wohl auch eine Art Ex Manus De Mater.

Gertrude Stein stirbt im Juli 1946 in Neuilly-sur-Seine, einem westlichen Vorort von Paris, im Amerikanischen Krankenhaus, an Magenkrebs. Ihre Grabstätte befindet sich auf dem Cimetière du Père Lachaise, es ist das gleiche Grab, in dem zwei Jahrzehnte später auch ihre Gefährtin Alice Toklas, sie stirbt im März 1967, beigesetzt wird.

Der kommerzielle Erfolg der experimentierfreudigen Autorin erreicht nicht den Ruhm eines James Joyce. Ihr Einfluss auf die Vertreter der Lost Generation jedoch, ebenso wie auf den New Journalism oder die Beat Generation ein halbes Jahrhundert später, ist beachtlich. Gleichermaßen wie ihre Rolle als Vorkämpferin feministischer Ideale. Der Wirkungskreis dieser Autorin bleibt übersichtlich, als Mentorin und Mäzenin darf ihr Einfluss allerdings nicht unterschätzt werden. Und gerade Ernest Hemingway sollte sein Läster-Werkzeug einpacken und dem Herrgott dreimal täglich danken, dass diese anregende Frau seinen Lebensweg gekreuzt hat. 

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