Maestro Hemingway weist mal wieder die Richtung. Art by C. Stock.

Der erste Satz eines Romans ist der schwierigste. Und der letzte Satz der zweitschwierigste. Der ganze Text dazwischen scheint mir dagegen einfach, man braucht bloß seine Geschichte zu erzählen. Als Autor darf man die Wirkung des ersten Satzes nicht unterschätzen. Wenn der erste Satz nichts taugt, ist das ganze Buch Mist.

Es gibt Schriftsteller, die wahre Meister des ersten Satzes sind. Der Kolumbianer Gabriel García Márquez ist so einer. Chronik eines angekündigten Todes. Ein Anfang zum Niederknien. An dem Tag, an dem sie Santiago Nasar töten wollten, stand er um fünf Uhr dreißig morgens auf, um den Dampfer zu erwarten, mit dem der Bischof kam. Besser geht es nicht.

Und auch Ernest Hemingway hat den Stellenwert des ersten Satzes verinnerlicht. Mit Bravour in: Der Unbesiegte, In einem anderen Land und natürlich in Der alte Mann und das Meer. Nebenbei bemerkt, Hemingway ist in der Kunst des letzten Satzes noch besser als in der des ersten. Aber dies ist eine andere Geschichte. Bleiben wir beim ersten Satz.

Allein dieser Eröffnungssatz hat einen Nobelpreis verdient. He was an old man who fished alone in a skiff in the Gulf Stream and he had gone eighty-four days now without taking a fish. So einfach und so perfekt. Er war ein alter Mann und fischte allein in einem Boot im Golfstrom, und seit vierundachtzig Tagen hatte er keinen Fisch gefangen. Das Schicksal des Fischers Santiago in einem prägnanten Ausschnitt. Und zugleich die Beschreibung des Schicksals der Menschheit. 

Der erste Satz ist mehr als ein erster Satz. Er markiert den Geburtsmoment einer Erzählung. Der Punkt, von dem alles ausgeht. So wie eine unbekannte Person, die zur Tür hereinkommt und Guten Tag wünscht. Die Art und Weise wie sie dieses Guten Tag sagt, entscheidet über Annäherung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit. Der erste Eindruck entscheidet. Man hat keine zweite Chance auf einen guten ersten Eindruck.

Für den Leser ist ein guter erster Satz wie der Sprung ins kalte Wasser. Der Auftakt muss überraschen, emotional packen und sich den Weg in die Seele bahnen. In Bezug auf die Handlung muss ein Eröffnungssatz etwas anbieten, darf zugleich jedoch nicht zu viel verraten. Er soll sich dem Thema nähern, aber den Pegel der Neugierde hoch halten. Die Stimmung, die dann den Roman durchzieht, wird in diesem ersten Satz angestimmt.

Der Eröffnungssatz ist die Keimzelle, von der sich alles abspaltet. Ton, Inhalt, Figuren, Melodie und Rhythmus des Buches. Urs Widmer nennt den ersten Satz das Samenkorn der ganzen Geschichte. Länge, Tempo und Kolorit eines Werkes muss er enthalten und vorbestimmen. So entscheidet der erste Satz über Sieg und Niederlage. Man kann nach einem schlechten ersten Satz wahrscheinlich trotzdem ein gutes Buch schreiben. Ein Makel jedoch würde bleiben. 

Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern!, gab Filmproduzent Samuel Goldwyn seinen Drehbuchautoren in Hollywood vor. Wie ein Paukenschlag muss ein erster Satz wachrütteln, er muss einschlagen wie ein Blitz. So stark muss ein Auftakt sein, dass man ihn künftig auch im Schlaf runterbeten kann. Wer in Opas Badelatschen daherkommt, hat schon verloren. Als Erzähler fällt man so weit zurück, dass die verlorene Wegstrecke nur schwer aufzuholen ist.

Den ersten Satz gut hinzukriegen, ist eine Kunst. In meiner Laufbahn als Lektor habe ich oft gute Manuskripte gelesen, allerdings mit einem schlechten ersten Satz. Manchmal hilft schon ein kleiner Kniff. Ich streiche den schlechten ersten Satz und fange mit dem zweiten Satz an. Mitunter ist der zweite Satz der bessere erste Satz.

Die Stufe der Magie wird erreicht, wenn es gelingt, den ersten Satz mythisch aufzuladen und trotzdem natürlich zu bleiben. Geheimnisvoll und doch bodenständig. Der Einstieg darf auf keinen Fall aufgesetzt klingen, sondern sollte aus der Lebenswirklichkeit gegriffen sein. Je kürzer, desto besser. So wie es Joseph Heller bei Catch-22 vorgemacht hat: It was Love at first sight. Großartig! Es war Liebe auf den ersten Blick. So muss es sein. Liebe auf den ersten Blick. Der erste Satz.

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