
Das beste Interview mit Ernest Hemingway findet man in der Paris Review. In diesem US-Magazin verrät ein Autor in heiterer Laune, was ihm für sein Schreiben wichtig und existenziell scheint. Der amerikanische Nobelpreisträger, der auf Kuba lebt, gibt selten Interviews. Das Räsonieren und gelehrt daher reden liegt ihm nicht. Schon gar nicht will er über seine Bücher diskutieren.
Für die Paris Review macht er eine Ausnahme. Das lange Gespräch mit ihm führt Chefredakteur George Plimpton, die Zeitschrift wird es in der Nummer 18, im Frühjahr 1958, veröffentlichen. In dem tief schürfenden Gedankenaustausch, der Anfang März auf Finca Vigía stattfindet, verrät der bärtige Schriftsteller seine Techniken und Angewohnheiten, die Stil und Prosa zu Gute kommen.
Wenn ich an einem Buch oder an einer Geschichte arbeite, dann fange ich jeden Morgen nach Tagesanbruch an, so früh wie möglich. Niemand ist da, der einen stört, und es ist frisch und kühl, und man geht mit Tatkraft ans Werk. Zuerst lese ich, was ich gestern geschrieben habe. Denn ich höre immer dann auf, wenn ich mich noch im Schreibfluss befinde und weiß, wie es weitergehen soll. An das gestrige Pensum knüpfe ich dann an. Ich schreibe solange, wie die Energie reicht und ich den Fortgang der Handlung im Kopf behalte. Sodann schließe ich mein Tagespensum ab mit der Vorfreude auf morgen. Und am nächsten Tag lege ich dann wieder los.
George Plimpton besucht Ernest Hemingways auf Kuba und beschreibt sein Anwesen in San Francisco de Paula, mit scharfem Blick auf die Arbeitsnische im Schlafzimmer. Die vollgestopften Bücherregale, den übervollen Schreibtisch mit Zeitungen, Manuskripten und den Stapeln Papiere.
Le mot juste – die richtigen Worte finden
Plimpton fragt, wie viel er denn umschreiben müsse. Es kommt darauf an, antwortet Ernest Hemingway. Ich habe das Ende von ‚In einem andern Land‘ oft umgeschrieben. Die letzte Seite neununddreißigmal, bevor ich zufrieden gewesen bin. ‚Worin lag das Problem‘, fragt der Interviewer. Die richtigen Worte zu finden, antwortet Hemingway knapp. Le mot juste, so umschreibt die französische Literaturwissenschaft den Anspruch an das treffende Wort. An den millimetergenau passenden Begriff. Und auch Hemingway gibt sich nicht zufrieden, bis er das vollkommene Wort gefunden hat.
Mit offenen Fragen kitzelt George Plimpton einiges aus Ernesto heraus. Der Journalist aus New York ist ein Profi, zumal er als Chefredakteur von 1953 bis zu seinem Tod im September 2003 die Geschicke der Zeitschrift lenkt. Der Nobelpreisträger, in beschwingter Stimmung, redet frei heraus. Wer denn seine Vorbilder seien?
Mark Twain, Flaubert, Stendhal, Bach, Turgenjew, Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Andrew Marvell, John Donne, Maupassant, der gute Kipling, Thoreau, Captain Marryat, Shakespeare, Mozart, Quevedo, Dante, Virgil, Tintoretto, Hieronymus Bosch, Brueghel, Patinir, Goya, Giotto, Cézanne, Van Gogh, Gauguin, San Juan de la Cruz, Góngora – ich bräuchte einen Tag, damit mir jeder in den Sinn kommt.
Bei der Aufzählung überrascht, dass die Liste sich nicht nur auf Literaten beschränkt. Auch Maler und Komponisten befinden sich darunter. Dies bedarf einer Erläuterung.
Ich habe auch Maler genannt, weil ich von den Malern genauso viel über das Schreiben gelernt habe wie von Schriftstellern. Sie werden fragen, in welcher Hinsicht? Das würde einen weiteren Tag der Erklärung erfordern. Ich denke, was man auch von Komponisten und aus dem Studium der Harmonielehre und des Kontrapunkts lernen kann, ist klar und deutlich.
Die Paris Review wird 1953 in der französischen Hauptstadt von einer Gruppe enthusiastischer US-Literaten gegründet. Die Zeitschrift fördert und veröffentlicht etablierte als auch junge Autoren, vorwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum. Die Mission der heute vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift besteht darin, die Entwicklung kreativer Menschen, seien es Schriftsteller oder andere Künstler, zu fördern. In über sieben Jahrzehnten hat das Magazin viel zur öffentlichen Wertschätzung in Literatur und Grafik beigetragen. Als Mäzen des Literaturmagazins wirkte in den Anfangsjahre der steinreiche Aga Khan, der die Finanzierung sicherte. Der Multimillionär übernahm die Rolle des Verlegers für 23 Jahre.
Mit den Augen schreiben
Wie sein Handwerk funktioniere, fragt Plimpton. Ich glaube, es für einen Schriftsteller schwierig, darüber zu sprechen, wie er schreibt. Ich schreibe, um vom Auge gelesen zu werden. Über diesen Sachverhalt sollte keine weitere Erklärung nötig sein. Wenn sie mit den Augen schreiben, können sie sicher sein, dass die Prosa mehr enthält, als man beim ersten Lesen erkennen wird.
Rasch findet die Paris Review Anerkennung in der englischsprachigen Literaturszene. Der Erfolg hängt vor allem mit George Plimpton zusammen. Er macht die Zeitschrift zu seinem Lebenswerk. „I would give up my own writing before I would give up editing The Paris Review“. Der Chefredakteur ist ein Spitzenkönner in der Liga der Literaturkritik. Ob Hemingway andere Autoren als Konkurrenten sehe?
Noch nie. Früher habe ich versucht, besser zu schreiben als der eine oder andere bereits verstorbene Autor, von dessen Prosa ich beeindruckt gewesen bin. Seit geraumer Zeit versuche ich einfach, so gut zu schreiben, wie ich kann. Manchmal habe ich Glück und schreibe besser, als ich es kann.
Seit der ersten Ausgabe wird die Paris Review gerühmt für ihre Art of Fiction-Interviews, in denen zeitgenössische Schriftsteller über ihre Handwerkskunst sprechen. Diese Gespräche mit Autoren werden von den Lesern verschlungen. Von Ersterscheinen im Jahr 1953 bis zum Frühjahr 2025 wurden über alle Ausgaben des Magazins hinweg weit über 450 Autoren interviewt, viele von ihnen gelten heute als moderne Klassiker. „Kommen Ihnen die Buchtitel, während Sie an der Geschichte arbeiten?“, fragt George Plimpton den Nobelpreisträger von 1954.
Nein. Ich erstelle eine Liste mit Titeln, erst nachdem ich die Erzählung oder den Roman fertiggestellt habe. Bisweilen stehen auf der Liste bis zu hundert Vorschläge. Dann fange ich an, zu streichen. Manchmal streiche ich alle.
Das Interview macht Ernest Hemingway sichtlich Freude. Kluge Fragen, kluge Antworten. Hier ist sein Leben und seine Berufung drin. Der Schriftsteller mit dem ergrauten Bart wird in seinem kubanischen Refugium herausgefordert. Nicht zuletzt, auch über sich nachzudenken. Wir schreiben das Jahr 1958, der Korridor bis zu seinem Tod ist nicht arg lang. Er spürt es. Der Gedankenaustausch scheint wie der Rückblick auf ein großes Literatenleben. Möglicherweise redet hier ein Mensch von seinem literarischen Vermächtnis. Auf jeden Fall bietet das Gespräch die eine oder andere Anregung für die nachfolgenden Generationen.
Schreiben wie beim Blick auf einen Eisberg
Für Ernest Hemingway ist das Beobachten die Königsdisziplin eines Autors. Wenn ein Schriftsteller aufhört zu beobachten, ist er am Ende. Er darf jedoch weder einseitig beobachten, noch an das Ergebnis denken. (…) Ich versuche, nach dem Prinzip des Eisbergs zu schreiben. Auf jeden sichtbaren Teil kommen sieben Achtel unter Wasser. All ihr Wissen sollten Sie weglassen, es wird dadurch den Eisberg stärken. Ihre Kenntnis wird zum Anteil, der nicht sichtbar ist.
Plimpton berichtet davon, wie Hemingway seinen täglichen Fortschritt festhält, auf einer großen Tabelle, die er aus der Seite eines Kartons gebastelt hat und an der Wand unter der Trophäe eines Gazellenkopfes aufgehängt hat. Die Zahlen mit dem täglichen Wortausstoß variieren bei 450, 575, 462, 1.250 und 512. Eine höhere Produktivität entlastet das schlechte Gewissen, der kernige Naturbursche kann den nächsten Tag unbeschwert mit dem Angeln im Golfstrom verbringen. Doch Obacht: Bei allen Zahlen, Ausführlichkeit ist nicht Hemingways Ziel, im Gegenteil. Die gerade mal hundert Seiten von Der alte Mann und das Meer zeigen es beispielhaft auf.
‚Der alte Mann und das Meer‘ hätte ich auch über tausend Seiten lang schreiben können. Ich hätte jede Figur des Dorfes entwerfen und ihren Alltag beschreiben können. Wie die Fischer ihren Lebensunterhalt verdienen, wie ihre Kindheit verlaufen ist, die Erziehung, ob sie Kinder haben, und so weiter. Das können manche Autoren hervorragend. Ich jedoch habe ein anderes Konzept verfolgt. Zunächst habe ich versucht, alles auszusondern, was den Leser von der Kernhandlung ablenkt. Mit dem Ziel, dass ich Unmittelbarkeit schaffe. Alles soll der eigenen Phantasie des Lesers dienen und so erscheinen, als habe sich alles tatsächlich so zugetragen. Das ist eine verdammt schwere Übung gewesen, ich habe hart daran gearbeitet.
Solche Gespräche für die The Paris Review können mehrere Stunden dauern, häufig treffen sich die Interview-Partner auch zu Gesprächsrunden an verschiedenen Tagen. Für die Veröffentlichung des Interviews mit Ernest Hemingway räumt die Zeitschrift 21 Seiten frei.
Ein Scheiße-Sensor als Alarm-Sirene
„Was braucht ein Schriftsteller“, fragt George Plimpton harmlos. Die wichtigste Voraussetzung für einen guten Schriftsteller ist ein eingebauter, stoßfester Scheiße-Sensor. Dies ist die Alarm-Sirene eines Autors und alle großen Schriftsteller haben ihn.
Was ihn antreibt, will George Plimpton zu Ende des Gesprächs aus dem Jahrhundert-Autor heraus kitzeln.
Von allem was geschieht und mit all deiner Erfahrung und Kreativität erzeugst du eine neue Wirklichkeit. Du machst alles lebendig, und wenn du gut genug bist, dann machst du diese neue Wirklichkeit unsterblich. Deshalb schreibe ich, aus keinem anderen Grund.
Unsterblichkeit als Ziel. Mit seinen Büchern. Wie könnte es anders sein? Doch was bedrückt ihn