Auf den Fersen von Ernest Hemingway

Ein einsamer Tod in den Rocky Mountains – und eine Überraschung

Die letzte Ruhestätte des Ernest Hemingway auf dem Dorffriedhof von
Ketchum; Foto: W. Stock, im April 2018

Im Morgengrauen des 2. Juli 1961 beendet einer der größten Schriftsteller aller Zeiten sein Leben. Mit einer doppelläufigen Schrotflinte, die er sonst zur Taubenjagd nutzt, erschießt sich Ernest Hemingway im Eingangsbereich seines Landhauses in Ketchum.

Der entlegene Ort im US-Staat Idaho ist die letzte Lebensstation des Weltenbummlers. Der alt gewordene Schriftsteller, der seit 1952 (in diesem Jahr erschien sein Meisterwerk „Der alte Mann und das Meer“) kein Buch mehr veröffentlicht hat, ist ein gebrochener Mann. Hemingways maßloses Leben fordert nun seinen Tribut: Das letzte Lebensjahr ist von Krankheiten und Klinikaufenthalten überschattet.

Die Beerdigung des Nobelpreisträgers findet an einem Freitag in Ketchum statt, am 7. Juli 1961. Mary, seine Witwe, will eine Beerdigung im familiären Kreis. Es kommen seine drei Söhne John, Patrick und Gregory, dazu die vier Schwestern und der jüngere Bruder Leicester. Zahlreiche Beileidstelegramme aus aller Welt sind im Haus der Hemingways am East Canyon Run Boulevard eingetroffen. Das Weiße Haus, der Kreml und auch der Vatikan haben ihre Kondolenz übermittelt.

Der Ketchum Cemetery liegt am nördlichen Rand des ehemaligen Silberminen-Ortes. Es ist ein einfacher Dorffriedhof, auf dem der Nobelpreisträger neben Farmern und einfachen Händlern seine letzte Ruhe findet. „Oh, mein Herr und Gebieter“, betet Dorfpastor Waldemann, „gewähre deinem Diener Ernest Hemingway die Vergebung für seine Sünden.“ Ganz in schwarz gekleidet und mit dunkler Sonnenbrille wirft Miss Mary eine rote Rose hinab auf den Sarg ihres Ehemannes.

Der Mann, der auf dem schmucklosen Friedhof seinen letzten Segen erhält, ist in seinen 61 Lebensjahren kein Heiliger gewesen. Er hat seine vier Ehefrauen hemmungslos hintergangen, er hat sich halbtot gesoffen, die Kinder vernachlässigt, und er ist auch ein ziemlicher Angeber gewesen. Aber er konnte schreiben wie keiner vor ihm. Er hat die englische Literatur von der viktorianischen Altbackenheit eines Charles Dickens befreit, er ist ein Revolutionär gewesen mit neuen Themen und einem lebensnahen Stil.

Noch heute pilgern Anhänger aus aller Welt in das abgeschiedene Kaff der Rocky Mountains. Auf der Grabplatte aus klarem Quarzit liegen halbgetrunkene Whiskey-Fläschchen, kleine Geldmünzen, Schreibstifte oder andere Mitbringsel, die Bewunderer als Zeichen ihrer Ehrerbietung dagelassen haben. „Ich säubere die Grabstätte einmal pro Woche“, sagt der Friedhofswärter, „aber zwecklos, am nächsten Tag ist alles erneut verunstaltet.“

Ein paar Tage nach dem Selbstmord lässt Witwe Mary das Gewehr zur örtlichen Schweißerei bringen, mit der Anweisung, die Waffe zu zerstören und anschließend zu vergraben. Der Schmied tut wie ihm aufgetragen. Er demoliert die Waffe, zerschneidet sie in drei Stücke. Der Schaft wird zerschlagen, die Stahlteile des Laufes mit dem Schweißgerät auseinander gebrannt. Die verstümmelten Reste des Gewehres werden dann außerhalb des Ortes vergraben.

Die Schweißerei gibt es noch heute in Ketchum, sie heißt Brooks Welding. Das Geschäft liegt an der Warm Springs Road und wird in diesen Tagen von Mike Brooks, dem Enkel von Elvin Brooks geführt. Elvin Brooks ist der Schweißer gewesen, dem damals Hemingways Gewehr übergeben worden ist.

Mike (63) überrascht im Gespräch mit einer unglaublichen Geschichte. Damals wurde zwar das ganze Gewehr zerstört und vergraben, einige Kleinteile hat sein Großvater als Andenken jedoch für sich behalten. In seinem kleinen Büro holt Mike Brooks aus einer Schublade sorgsam eine transparente Plastikschachtel. Der Schweißer hat die Teile des zertrümmerten Gewehres aufbewahrt, sie sind als kostbare Erinnerungsstücke von einer Generation zur nächsten gewandert. Und nun befinden sich die winzigen Teile von Hemingways Selbstmord-Gewehr im Besitz von Mike Brooks.

Stolz breitet der Schweißer die Kleinteile auf seinem Schreibtisch aus. In der kleinen Box liegen sieben Bruchstück: Ein größeres und zwei kleinere zerschmetterte Holzteile des Schaftes, zwei Splitter des Abzugshahns, ein winziger Brocken des Gewehrlaufes und ein Metallstückchen des linken Gewehrschlosses. „Es war eine englische Scott“, meint der Schweißer, „man kann es an der Eigenart des Gewehrschlosses ausmachen.“

Auch sonst wird das Andenken an den berühmtesten Bewohner Ketchums hoch gehalten. Am Hemingway Memorial wird auf einer Gedenktafel eines der schönsten Gedichte des Nobelpreisträgers zitiert, ein Raum im Starbucks ist bis an die Decke voll mit riesigen Postern und Fotos. Das Haus der Hemingways am East Canyon Run Boulevard  steht noch, innen hat sich seit den 1960er Jahren nicht viel verändert. Das Anwesen wird von der örtlichen Bibliothek verwaltet und ist für Publikum allerdings nicht geöffnet. Die Bewohner von Ketchum verehren noch heute den Nobelpreisträger. Weil er kein abgehobener VIP gewesen ist, sondern einer wie die meisten hier: ein guter Jäger und trinkfest am Tresen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf BILD.de am 2. Juli 2021

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Um Gottes willen, Hemingway!

  1. Peter Schönau

    Hervorragende Schilderung

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