Auf der Feria de Abril in Sevilla zeigen sich die lokalen Hermandades mit ihren casetas, mit nur Mitgliedern und eingeladenen Gästen vorbehaltenen Festzelten. Foto: W. Stock, April 2023.

Wenn in Andalusien ein Fest gefeiert wird, dann kommen die lokalen Bruderschaften zum Zuge. Ob bei der Semana Santa oder den Ferias, ohne die Hermandades sind die Festivitäten im katholischsten Winkel Spaniens nicht denkbar. Hermandad oder zu Deutsch Bruderschaft. Brüderlichkeit ist für viele Ohren ein sehr antiquierter Begriff. Sein Inhalt jedoch bleibt aktuell: Bruderschaft bezeichnet das soziale und solidarische Verhalten in einem Zusammenschluss, der nicht auf Verwandtschaft gründet, sondern auf Gemeinsinn.

Das Konzept der Bruderschaft wurde zu Hemingways Lebzeiten in zahllosen Hermandades in Spanien und auf Kuba gelebt. In jeder spanischen Großstadt sind sie noch heute zu finden. Wie in Sevilla bei der Feria de Abril, wo man die Bruderschaften im Dutzend findet, von der Hermandad de los Gitanos bis zur Hermandad del Museo. Ernest Hemingway hat sich zeit seines Lebens stark von Spanien angezogen gefühlt. Beigetragen haben dazu auch die tradierten Werte und Riten, die dort wie sonst nirgends gelebt werden, vom Stierkampf über die Büßer-Prozessionen bis zu den Hermandades.

Die Brüderlichkeit in Spanien wird mit der Abstammung von einem Vater begründet, der Vaterschaft des christlichen Gottes beispielsweise. Brüderlichkeit als Fraternité ist – neben Freiheit und Gleichheit – eines der drei Prinzipien der Französischen Revolution gewesen. Auch die Arbeiterbewegung hat ihre Solidarität inhaltlich von der Brüderlichkeit abgeleitet. Mit der Reformation des Christentums und der Säkularisierung wird das Wirken der Bruderschaften weltweit in den Hintergrund gedrängt. Doch in Andalusien, an der historischen Schnittkante von Katholizismus und Maurentum, bleiben die Hermandades lebendig.

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Dutzende Hermandades aus Sevilla finden sich im Ausstellerverzeichnis der Feria de Abril. Foto: W. Stock, 2023.

Freunde, Vertraute, wie Brüder. In Männergesellschaft fühlt sich Ernest Hemingway am wohlsten. Unter Männern redet man ungeschminkt, und auch auf Manieren braucht man weniger zu achten. Everyone behaves badly, given the chance, lässt er Jake Barnes in The Sun Also Rises kundtun. Jedermann benimmt sich daneben, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Erst die Gemeinschaft verleiht Stärke und Sicherheit.

In fast allen Kulturen der Welt ist das Ideal der Brüderlichkeit bekannt. Die Idee der Brüderlichkeit gründet auf einem gemeinsamen Wertegebäude und auf gemeinsames Handeln. Getragen wird die Brüderlichkeit von Identifikation, Verantwortungswille und Pflichtgefühl. Verbundenheit und Vertrautheit definieren den Einzelnen als Gemeinwesen.

Vertrauen, Freundschaft, Loyalität und Hilfsbereitschaft gehören zu den Prinzipien der Bruderschaften. Alles Werte, die sich bei Ernest Hemingway wiederfinden. In seinen Werken und in seiner Person. Es geht letztlich um die Achtung jedes Menschen. Eigentlich geht es um die Würde, um einen altmodischen Begriff zu gebrauchen, um Menschenwürde.  

Ernest Hemingways einsamer Held lebt die Werte der Hermandad vor. In Der alte Mann und das Meer durchläuft Santiago einen Prozess der Selbstverwirklichung, von Entschlossenheit und Demut getragen, um seine Würde zu behalten. Der Fischfang führt unausgesprochen zum Entstehen einer Bruderschaft zwischen allen Fischern von Cojímar, sie teilen das gleiche Schicksal. Als der alte Mann schließlich in seine Gemeinschaft zurückkehrt, kommt er trotz Niederlage als Held.

Der berühmte Schriftsteller mag ausgelebten Gemeinsinn und einen Kreis um sich. Vertraute. Ein Gemeinschaft wie unter Brüdern. Denn Ernest Hemingway hasst die Einsamkeit. Er kann nicht alleine sein, er muss Menschen um sich wissen. Tief in ihm brodelt die Angst vor der Verlorenheit, die alltäglichen Vorboten der großen Verlassenheit quälen ihn wie kleine Tode. Nur unter Freunden ist er glücklich wie ein Kind.

Seelenverwandte geben ihm Sicherheit und Halt im turbulenten Leben. Vor allem emotionale Geborgenheit. Wegen dieser inneren Wärme braucht der Nobelpreisträger Freunde und Brüder um sich. Egal, wo auf dem Planeten. Und vielleicht bilden ja heute all die Aficionados von Ernest Hemingway auf diesem weiten Globus ebenfalls eine Art Hermandad. Menschen mit einem gleichen Ziel, ähnlichen Werten und gegenseitiger Hilfe.

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