Ernest Hemingway
Deutschland
Ernest Hemingway: Reportagen 1920 bis 1924. Rowohlt Verlag, 380 Seiten, Übersetzt von Werner Schmitz.

Von Dezember 1921 bis März 1928 lebt Ernest Hemingway mit Ehefrau Hadley in Paris. Seinen Lebensunterhalt bestreitet der Jungvermählte mit journalistischen Artikeln, er hat einen freien Vertrag mit der kanadischen Zeitung Toronto Star, bei der er als Europa-Korrespondent firmiert. Von Paris aus bereist der junge Pressevertreter den Kontinent, besonders oft sieht man ihn in Italien, in der Türkei, der Schweiz, Spanien und in Deutschland.

Über 80 Berichterstattungen aus jener Zeit sind in dem Band Reportagen 1920 – 1924 gesammelt. Seine frühen Reportagen sind ein faszinierender wie vergnüglicher Lesestoff, zumal in Paris die Weichen gestellt werden für seine Zukunft. Als Persönlichkeit und als Schreiber. Man darf nicht vergessen, Journalismus hat Hemingway weder studiert (wenn dies überhaupt möglich ist), noch von der Pike auf praktisch gelernt. Er hat ein paar nette Sachen geschrieben in der Schülerzeitung von Oak Park, dazu ein kurzes Intermezzo beim Kansas City Star als Polizeireporter. Dann ruft das Abenteuer: 22 Jahre jung, geht er nach Übersee, nach Paris.

Dort schreibt er viel aus und über Europa. Für einen Deutschen sind natürlich Hemingways Schilderungen aus Deutschland interessant. Der Mann aus Chicago hat sein Bild von den Teutonen, die acht Jahre zuvor mit Hurra in einen Krieg gezogen sind, und diesen vor gerade einmal vier Jahren verloren haben. Große Sympathie darf man da nicht erwarten, zumal die USA auf der anderen Seite der Front im Schützengraben lagen. Auch in Person eines 18-jährigen Sanitätsfahrers namens Ernest Hemingway.

Und so wundert es wenig, dass der US-Amerikaner sich fleißig an den Stereotypen über die Germanen abarbeitet. Wie sahen Mütter, die ihren rosigwangigen Kindern Bier aus großen Halbliterkrügen zu trinken gaben. Aha! Ob er es wirklich so gesehen hat, oder ob es im Nationalcharakter der Deutschen liegt, ihre Kinder mit Bier abzufüllen, das sei mal dahingestellt. Auf jeden Fall lesen sich Ernest Hemingways Eindrücke aus Süddeutschland – nun ja – ein wenig drollig.

Klamaukig gerät auch die Schilderung, wie Hemingway in Triberg von den Bürokraten in den Amtsstuben ein Angelschein verwehrt wird. Und er sich trotzdem auf den Weg macht zu seinem Forellenbach im Schwarzwald. Wir stellten fest, dass man selbst auf einem der wilderen und abgelegeneren Wege keine zwanzig Schritte gehen konnte, ohne auf sechs bis acht Deutsche zu stoßen, die mit rasierten Schädeln, nackten Knien, Hahnenfedern am Hut, Sauerkraut im Atem, Wanderlust im Blick und einer gegen ihre Beine klappernden Sammlung von Aluminiumgeschirr des Weges zogen. 

Wie auch immer, die Leserin und der Leser merken, dieser Schreiber pflegt mit Nachdruck seine Vorurteile. Gemahl speist zuerst, Weibchen kriegt die Krümel! heißt eine andere Reportage über eine Zugfahrt von Frankfurt nach Köln. Es geht gegen deutsche Ehemänner, die sich wenig galant zeigen gegenüber ihren Ehefrauen. Es ist so oft wie bei einer Reportage von ihm. Die Hälfte mag stimmen, die andere Hälfte ist zumindest genial geschrieben. Das Publikum daheim wird es mit Heiterkeit gelesen haben. 

Diese frühen Kabinettstückchen aus Deutschland für den Toronto Star, allesamt aus dem Jahr 1922, sind in anderer Hinsicht aufschlußreich. Denn sie verraten, wie der damals 23-jährige Ernest Hemingway als Schreiber funktioniert. Der junge Journalist besitzt eine phänomenale Beobachtungsgabe, in Bezug auf Landschaften, auf Menschen und auf Kolorit. In unnachahmlicher Weise schreibt er seine Stücke und wahrt die Harmonie von objektiver Entdeckung und subjektivem Erleben.

Hinzu kommt bei diesem Menschen ein erheblicher Fleiß. Man mag es kaum glauben, bei seinem Lebenswandel. Ernest Hemingway, obwohl er den Alltag in jeder Beziehung auskostet, schreibt viel und er schreibt in aller Ausführlichkeit. Dazu recherchiert er gründlich, er baut Kontakte auf, und er geht textlich in die Details. Diese schreiberische Disziplin sollte er bis zum Ende seines Lebens bewahren.

Seine Reportagen offenbaren allerdings auch eine unübersehbare Schwäche. Sobald sein Lagebericht über kurz oder lang zielgenau und vorausschauend ausfallen muss, wenn er zum Beispiel zu den Ursachen und der Wirkung der Hyperinflation in Deutschland spricht, dann gerät seine Betrachtung hin und wieder in Schieflage. Als Hemingway etwa in Konstantinopel über Kemal Atatürk oder aus Italien über Benito Mussolini urteilt, unterliegt der Amerikaner so manchem Trugschluss. 

Aber wir wollen von Ernest Hemingway ja kein volkswirtschaftliches Proseminar hören oder uns die großen Linien der Zeitgeschichte von ihm erklären lassen. Dies kann er nicht, und dies braucht er auch nicht. Hier liegt nicht seine Begabung. Was diesen Schreiber wie keinen Zweiten ausmacht, ist etwas anderes. Die Arbeitsweise eines guten Reporters: nahe herangehen und messerscharf beobachten.

Dieser Mann von Anfang zwanzig kann aus heiterem Himmel entdecken und sein Erlebtes mit leichter Feder zu Papier bringen. Man darf nicht alles für bare Münze nehmen, ein Augenzwinkern ist oft dabei, dazu liebt dieser kernige Mann viel zu sehr die irdischen Genüsse. Sehen und schreiben. Weniger Kopf, dafür mehr das Auge und sehr viel der Bauch. Ein wenig Imagination mag dazu kommen. Jedenfalls erkennt man, hier nimmt ein Talent Anlauf für ganz Großes. Die reiche Gabe, mit denen der liebe Gott diesen Menschen ausgestattet hat, lässt sich jedenfalls schon in seinen frühen Reportagen ablesen.

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