Der Bücherleser Ernest Hemingway, zusammen mit seinem Hund Negrita auf der Finca Vigia in Kuba. Credit Line: Ernest Hemingway Collection/John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston.

Es ist wichtig, wie man sich diesem merkwürdigen Schriftsteller aus Amerika nähert. Literarisch und menschlich, ohnehin. Aber vor allem als Leserin oder Leser. Doch wie liest man ihn am besten? Und wie sollte man ihn nicht lesen? Von der Antwort auf diese scheinbar so selbstverständlichen Fragen hängt einiges ab.

Mein Empfinden nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit diesem wilden Kerl ist glasklar: Man muss ihn langsam lesen. Sehr langsam. Jedes Wort sollte man sich auf der Zunge und im Gehirn zergehen lassen. Denn bei ihm kommt es auf jedes einzelne Wort an. Doch zum Langsam-Lesen benötigt man Disziplin und Muße. Es fällt nicht leicht in unserer schnelllebigen Zeit.

Zumal dieser Ernest Hemingway raffinierte Fallgruben gräbt: Seine einfach Sprache verführt dazu, ihn rasch zu lesen. Die Prosa des Nobelpreisträgers von 1954 geht runter wie gezuckerter Daiquirí. Dieser Autor zelebriert in all seinen Werken eine einfache Syntax. Hauptsatz, dann nächster Hauptsatz. Die Sätze und Dialoge: klar und geradeaus. Gerade durch den kurzen Rhythmus erhalten Hemingways Sätze Tempo.

Man darf sich jedoch von diesem Tempo nicht mitreißen lassen. Leichter gesagt als getan! Denn durch die Rasanz kriegt der arme Leser kaum Zeit zum Luftholen, er wird von der Geschwindigkeit der Satzmelodie in den Bann gezogen. Dem überrumpelten Leser bleibt keine Zeit zum Nachdenken, zur Aufmerksamkeit. Und zum Bemerken des Schönen.

Ernest Hemingway ist ein erstklassiger Handwerker. Er ringt um jedes Wort. Es sieht im Ergebnis so einfach aus, weil es perfekt ist. Doch Perfektion fällt nicht voll Himmel, nichts kommt von alleine. Manchmal grübelt er auf Finca Vigía stundenlang über einen Satz.  All my life I’ve looked at words as though I were seeing them for the first time. Mein ganzes Leben lang habe ich Wörter betrachtet, als wenn ich sie das erste Mal sehen würde.

Erst wenn er diese Makellosigkeit der Sprache durch Einfachheit und Exaktheit erreicht hat, zeigt er sich mit einem Manuskript zufrieden. Im Fussball spricht man bisweilen von einem kompletten Spieler. Das ist ein Fussballer, der alles hat und dem man nichts mehr beibringen kann. Wie ein perfekter Handwerker. In diesem Sinne ist Hemingway ein kompletter Autor. In seinen Romanen und – noch deutlicher – in seinen journalistischen Reportagen.

Als Literat hat er sich nie als Genius oder kreativer Kopf empfunden, sondern stets als demütiger Handwerker begriffen. Erfinde nichts, erzähle einfach eine Geschichte.  All you have to do is write one true sentence. Write the truest sentence that you know. So finally I would write one true sentence, and then go on from there. Mit einem wahrhaftigen Satz solle ein Autor anfangen, so wahrhaftig wie es nur geht, und dann solle er einfach weitermachen.

Aufschreiben, was man sieht. Für den Leser hießt dies: Obacht! Der Mann will uns mit seiner Klarheit und seiner Sachlichkeit einlullen. Mit Hemingways rasanter Prosa ist es wie mit dem Menschen und der Natur. Wir hetzen durch den Alltag und sehen das Schöne nicht mehr. Die Bäume, die Felder, die Architektur, den Schnee, die Sonne, die Bäche und die Flüsse. Eine wunderbare Fussnote bei einem Autor, der wie kein anderer auf die Kraft der Naturbilder setzt.

Deshalb sollte man ein wenig gegen ihn rebellieren und ihn sorgsam und mit Bedacht lesen. Lieber weniger lesen und sich mehr Zeit nehmen. Jeden Tag vielleicht nur zwei, drei Seiten. Insofern kann das sachte Lesen dieses ungestümen Schreibers mehr bewirken. Vielleicht gelingt es Ernest Hemingway, uns durch slow reading zu sensibilisieren. Wir lesen dann nicht nur bewusster. Sondern mehr. Wir beobachten dann wieder bewusster, und wir leben wieder bewusster. 

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