Irgendwie erscheint Ernest Hemingway verloren in dieser ihm unbekannten Welt. Istanbul, das damals Konstantinopel hieß. Foto: W. Stock, Februar 2020

Im Gare de Lyon besteigt Ernest Hemingway am Abend des 25. September 1922 den Orient-Express, einen Luxus-Zug aus Schlaf- und Speisewagen, der seit 1883 Paris mit Konstantinopel verbindet. In Europa wird mehr gereist, komfortable Verbindungen ohne lästiges Umsteigen werden von der anspruchsvollen Kundschaft verlangt. Gerade der Orient-Express steht für diesen hochwertigen Fortschritt in der abendländischen Zivilisation.

Nach dem Ersten Weltkrieg fährt der Simplon-Orient-Express täglich die neue südliche Route über Lausanne, durch den Simplon-Tunnel von der Schweiz nach Italien, dann Mailand, Venedig, Triest nach Zagreb, Belgrad, Sofia bis nach Konstantinopel. Die türkische Metropole am Goldenen Horn ist das Tor zum Orient, das nach der Revolution des Kemal Atatürk bis heute Istanbul heißt. 

Als Reporter des Toronto Daily Star soll Ernest Hemingway für seine Zeitung Artikel über die Friedensverhandlungen zwischen Türken und Griechen schreiben. Mit den Friedensverhandlungen läuft es gut, mit dem Schreiben weniger. Der US-Autor bleibt lange in seinem Hotelzimmer, er ist erkrankt, und er nimmt nur wenige Pressetermine wahr. Er vermisst seine Ehefrau Hadley, die in Paris geblieben ist.

Der amerikanische Korrespondent für den Toronto Daily Star schreibt in der Metropole am Bosporus wenig. Zwei Artikel in den ersten zehn Tagen, das ist erstaunlich schwach für Ernest Hemingway. Die Artikel für die kanadische Tageszeitung bilden eigentlich keine große Herausforderung für ihn, er speist sie überwiegend aus den westlichen Quellen vor Ort.

Doch die Widrigkeiten in der Grenzlage zwischen Morgen- und Abendland werden zu einer unerwarteten Herausforderung für den Amerikaner. Gesundheitlich geht es ihm von Tag zu Tag schlechter. Mit hohem Fieber lässt er sich zur britischen Klinik fahren, in der er als Notfall behandelt wird. Eine Malaria wird von den Ärzten diagnostiziert, er bekommt Chinin und Aspirin.

Der Journalist lässt sich bei einem türkischen Barbier die Haare vom Schädel rasieren, um den Läusen in seinem schäbigen Hotel beizukommen. Mehrmals wird er die Unterkunft wechseln, der Mann aus Chicago ist nicht zufrieden mit dem Standard im alten Konstantinopel. Die Mücken beißen, die Bettflöhe stechen, die Wanzen piesacken. 

Constantinople is noisy, hot, hilly, dirty, and beautiful. Die Stadt sei laut, heiß, hügelig, verschmutzt und wunderschön. Er quartiert sich nun in ein besseres Hotel ein, es ist das Luxushotel des Orient-Express. Der spätere Nobelpreisträger wird das Pera Palace unsterblich machen. In seiner Kurzgeschichte Schnee auf dem Kilimandscharo widmet er 1936 dem Hotel einen ganzen Absatz.

Der Schriftsteller Harry – das Alter Ego von Hemingway – zerzaust von der heftigen Schlägerei mit einem britischen Kanonier und mit einem leichten Mädchen im Schlepptau streunt durch das nächtliche Konstantinopel. Er verließ sie, bevor sie aufwachte, reichlich verludert im ersten Tageslicht, und betrat das Pera Palas mit einem blauen Auge, den Mantel überm Arm, weil ein Ärmel fehlte.

Es ist Herbst 1922 und Ernest Hemingway gefällt sich als ein Reporter mit Haut und Haaren, neugierig und abenteuerlustig. Doch sein Aufenthalt in Konstantinopel wird seine beruflichen Prioritäten gehörig durcheinander wirbeln. Seine schillernden Depeschen über den griechisch-türkischen Krieg für den Toronto Daily Star  tragen maßgeblich dazu bei, dass er sich dem Journalismus entfremdet und der Schriftstellerei nähert.

Der Tagesjournalismus mit all der politischen und wirtschaftlichen Komplexität verwirrt ihn. Oder wie er einem Freund sagt: Ich bin betrunken von dem Abfassen all der Depeschen. Zurück in seiner Traumstadt Paris ist für ihn sein weiterer Berufsweg klar. Nicht dem Journalismus, sondern dem Leben eines Schriftstellers gehört nun seine Passion.

Loading