Ein Koffer voller Manuskripte verschwindet. Und taucht nie wieder auf.

Ende November 1922 reist Ernest Hemingway von Paris nach Lausanne, um dort über die Friedenskonferenz zwischen Türken und Griechen zu berichten. Die Türkei unter Kemal Atatürk hat den Krieg gewonnen, und nun stehen unter Schirmherrschaft des Völkerbundes die Verhandlungen über die Gebietsaufteilungen an.

Am 2. Dezember macht sich Ehefrau Hadley auf, um ihren Ehemann in der Schweiz zu besuchen. Im Gepäck auch ein kleiner Wochenend-Koffer voller Manuskripte, inklusive Duplikate. Ernest, der in den USA einen Verleger für seine Erzählungen und Gedichte sucht, will dem befreundeten Journalist Lincoln Steffens seine bisherigen Arbeiten zeigen. Vielleicht kann dieser in der Heimat ein gutes Wort für ihn einlegen. 

Am Gare de Lyon besteigt Hadley den fast leeren Zug. Die Koffer verstaut sie im Gepäckfach, sie nimmt ihren Sitz ein. Durch das Fenster erblickt sie einen Kiosk, der Erfrischungen verkauft. Kurzentschlossen springt Ernests Ehefrau aus dem Zug und kauft eine Flasche Evian als Reiseproviant. Nach wenigen Minuten ist sie zurück in ihrem Zugabteil.

Entsetzt stellt sie fest, dass der Weekender fehlt. Der kleine Koffer mit Ernests Manuskripten ist gestohlen. In Panik sucht sie den Schaffner. Gemeinsam gehen sie durch die Wagons, doch nirgends ist die Reisetasche aufzufinden. Eine Katastrophe! Die Arbeit eines ganzen Jahres verloren. Hadley ist am Boden zerstört.

Am nächsten Morgen erreicht der Zug Lausanne, tränenaufgelöst tritt Hadley ihrem Mann gegenüber. Der Verlust ist ein harter Schlag für den unbekannten Schriftsteller. Kurzentschlossen nimmt Ernest den Abendzug nach Paris, um im Bahnhof und Fundbüro nach dem Koffer zu forschen. Ergebnislos. Am 4. Dezember nimmt der US-Amerikaner den Nachmittagszug zurück nach Lausanne.

Auch nach der Rückkehr in Paris am 6. Dezember 1922 suchen Ernest und ein paar Freunde verzweifelt nach dem Koffer. Ohne Ergebnis. Der 23-jährige Ernest steht am Anfang seiner Karriere, er muss Klinken putzen und bekommt eine Absage nach der anderen. Den Verlust empfindet er als Katastrophe, aber nicht als das Ende. Lediglich ein paar Manuskripte geklaut, die kein Verleger drucken will. 

In einem Brief an seinen Freund und Kollegen Ezra Pound im Januar 1923 gibt Ernest Einblick in sein Seelenleben: Du wirst wahrscheinlich anmerken, na und. Aber sag so etwas nicht zu mir. So weit bin ich noch nicht. In einigen seiner Werke – so in Paris – Ein Fest fürs Leben, Inseln im Strom, True at First Light und Der Garten Eden – verarbeitet der Schriftsteller die biografische Anekdote des verlorenen Koffers.

Der Verlust nagt noch lange an ihm. Doch Ernest gibt seiner Ehefrau nicht die Schuld an dem Diebstahl. Vielmehr ist es Hadley, die sich ihre Unaufmerksamkeit lange nicht verzeihen kann. 

Ernest besitzt ein erstklassiges Gedächtnis. Mit Hilfe von Notizen gelingt es dem 23-Jährigen, die meisten seiner Erzählungen über die nächsten Monate neu zu schreiben. Der verlorene Koffer wendet die Literaturgeschichte zum besseren. Denn in Paris lernt der junge Journalist schnell dazu, die quirlige Stadt formt ihn als innovativen Autor. Und so erweisen sich die Neuschreibungen in der Qualität wesentlich besser als die gestohlenen Manuskripte.

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