Sobald er neu in eine europäische Stadt kommt, besucht Ernest Hemingway vor allem Kunstgalerien und Museen, den Prado in Madrid, die Accademia in Venedig, die Galerie Flechtheim in Berlin. In Paris, er hat von 1921 bis 1928 in der Stadt an der Seine gelebt, streunt er stundenlang durch den Louvre. Besonders fasziniert wird der US-Amerikaner von der Kunstfertigkeit der französischen Impressionisten.
Wenn er gefragt wird, welchem Beruf – außer Schriftsteller – seine Leidenschaft gilt, antwortet der junge Autor wie aus der Pistole geschossen: der Malerei. Der Arztsohn aus dem Mittleren Westen ist ein großer Bewunderer der bildenden Kunst. Er verfügt nicht nur eine erstaunlich sichere Urteilskraft zu Gemälden, sondern kennt viele Maler zudem persönlich.
In Paris kommt Hemingway mit den großen Künstlern der Avantgarde zusammen, lange vor deren Weltruhm. Der Autor aus Oak Park schließt Freundschaft mit Pablo Picasso. Joan Miró, Paul Klee, Juan Gris – für viel Geld erwirbt der junge Kerl einige Bilder der aufstrebenden neuen Malergeneration. Der bodenständige Amerikaner Waldo Peirce wird zeit seines Lebens ein enger Kumpel.
Ernest Hemingways nachgelassener Roman Der Garten Eden versteckt eine aufschlussreiche Hommage an seinen Lieblingsmaler. Die Akteure seiner erotisch knisternden Erzählung reisen nach Südfrankreich, ans Mittelmeer bei Le Grau-du-Roi. Das Zimmer, in dem sie wohnten, sah aus wie das Gemälde von Van Goghs Zimmer in Arles, nur dass es ein Doppelbett und zwei große Fenster hatte und man über das Wasser, den Sumpf und die Wiesen auf die weiße Stadt und den hellen Strand von Palavas blicken konnte.
Vor allem zwei Großmeister haben es ihm angetan. Neben Vincent van Gogh mag er besonders den Franzosen Paul Cézanne. Ich möchte so schreiben können, wie Cézanne malen kann, sagt er des Öfteren. Der Maler aus Aix-en-Provence zeichnet mit Vorliebe Motive aus der Natur, Landschaften und Gärten, Lichtungen und Blumenfelder, farbenfroh und ausdrucksstark mit einem Blick für die zarten Feinheiten.
Die Malerei hilft ihm, seine Prosa zu entwerfen. Denn auch die Sprache eines guten Schriftstellers braucht visuelle Kraft und Klarheit. Das Ziel, sagt Ernest Hemingway im Gespräch mit Edward Stafford, ist es, dem Leser jede Empfindung, jeden Anblick und jedes Gefühl zu vermitteln. Als Autor müssen Sie mit dem Wort zeichnen, damit der Leser sieht, was Sie gesehen haben, und fühlt, was Sie gefühlt haben.
Seine Annäherung an die Maler und die Erforschung ihrer Werke sind für Ernest Hemingway ein wesentlicher Bestandteil des Lernprozesses als Schreiber. Beobachten und entdecken, fühlen und erspüren – die impressionistischen Gemälde bilden eine seiner Inspirationsquellen. Der spätere Nobelpreisträger nutzt schon in seinen ersten Erzählungen die Visualität, um mit den Landschaftsbeschreibungen den Handlungsrahmen zu setzen. Für die szenische Spannung wiederum ist meist der dramatische Tonfall seiner Dialoge zuständig.
Die Betrachtung der Werke von Cézanne lehrt den Amerikaner, wie er seine modernen Kurzgeschichten mit Hilfe einer einfachen und emotionalen Technik neu aufbauen kann. Jedes Element im künstlerischen Prozess der Entstehung wirkt zweckdienlich und erfindungsreich sogleich. Die stimmige Farbgebung bei Cézanne wie auch die genaue Wortwahl bei Hemingway schaffen innere Struktur und Dichte.
Wie Cézanne setzt der Neuerer Ernest Hemingway vor allem auf die Landschaft, auf das Motiv und auf die Anordnung, um Eleganz und Vorstellungskraft zu erzeugen. Die Flüsse, das Gebirge, die Hügel, der Wald mit den grünen Bäumen, die Inseln und vor allem das Meer blühen nicht nur auf in einer neuen Visualität, sondern führen im Ergebnis zu einer anregenden Vielfalt an Emotionen.
Diese neue Ästhetik des Erzählens, die klassische und moderne Elemente vereint, arbeitet mit Empfindungen und Symbolen. Der Maler und der Schreiber öffnen beide den Raum und den Blickwinkel für die Imagination des Betrachters und Lesers. Ernest Hemingway beschreibt insofern keine Landschaften, er erschafft diese Landschaften. Ganz wie Cézanne.
Als Liebhaber der Malerei hat Ernest Hemingway immer versucht, das Herzstück eines Gemäldes zu entdecken. Er ist stets auf der Suche gewesen nach dem reinen Gefühl, wie er es nennt. Maler besitzen all diese großartigen Farben, mit denen sie arbeiten können, meint der Nobelpreisträger. Ich muss es auf der Schreibmaschine vollbringen oder mit meinem Bleistift in Schwarz und Weiß.
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