Erstaunliches gilt es zu vermelden. Das auflagenstarke Nachrichtenmagazin Focus hebt Ernest Hemingway in dieser Woche auf sein Cover, fast 59 Jahre nach dem Tod des amerikanischen Schriftstellers. Das Hemingway-Wunder überschreibt Chefredakteur Robert Schneider sein Editorial auf Seite 5 über den Nobelpreisträger von 1954. Ernest Hemingway war ein Abenteurer und Aufschneider, ein Geschichtenerzähler und Maulheld – und er war einer der größten Autoren des 20. Jahrhunderts.

Ein Autor, so groß jedenfalls, dass man den Fund einer bislang unbekannten Short Story auf dem Titel eines bekannten Wochenmagazins feiern muss. Anlass ist die Entdeckung einer Kurzgeschichte, die im Nachlass in der Ernest Hemingway Collection der John F. Kennedy Presidential Library and Museum in Boston gefunden worden ist. Ausgegraben hat die Geschichte Seán Hemingway, der Enkel des Schriftstellers, Sohn des jüngsten Sohnes Gregory.

Bei der Recherche für eine Neuauflage von Der alte Mann und das Meer entdeckt der Journalist, Jahrgang 1967, das Typoskript ohne Überschrift, aber mit handschriftlichen Anmerkungen. Ernest Hemingway, trotz seines Images als Trunkenbold und Weiberheld, war ein ungeheuer produktiver Autor, mehr als 3.000 unveröffentlichte Manuskriptseiten hat er bei seinem Tod 1961 hinterlassen. Es verwundert nicht groß, wenn man ab und an Veröffentlichungswürdiges entdeckt. 

Die Geschichte Pursuit As Happiness, die zuerst im US-Magazin New Yorker im Juni 2020 abgedruckt wurde, spielt auf Kuba. Der Titel wird nachträglich von Hemingways zweitjüngstem Sohn Patrick, dem letzten Überlebenden der drei Söhne, vergeben. In der Erzählung schreibt Ernest über seine Angeltouren mit dem Freund Joe Russell, dem Besitzer von Sloppy Joe’s in Key West. Auf der Anita fahren sie von Havanna heraus in den Golf von Mexiko auf der Jagd nach dem stolzen Marlin.

Die Erzählung spielt in den letzten Tagen des Machado-Regime auf Kuba, also um 1933 herum. Dieser Gerardo Machado y Morales, 1925 zum Präsidenten gewählt, entpuppt sich als tyrannischer Politiker, der die Interessen der latifundistischen Oberschicht im Auge hat und unter dessen Ägide Havanna zum Sündenpfuhl der USA absteigt. An dem Tag, an dem wir mit fünf Flaggen reinkamen, musste die Polizei die Menge auseinander knüppeln. Es war hässlich und brutal. Aber es war ohnehin ein hässliches und brutales Jahr an Land.

Ernest hat in dieser Erzählung einen klaren Blick für die sozialen Konflikte auf Kuba, das war nicht immer so. Die Bevölkerung darbt – trotz aller Sonne und Folklore, das Leben auf der Tropeninsel ist beschwerlich. Doch auf dem Meer, seinem The Great Blue River, findet Ernest eine andere Welt vor, hier herrschen Harmonie und Frieden, der Einklang mit der Natur sorgt für die Ruhe seiner verletzten Seele.

Ernest Hemingway lebte in den frühen 1930er Jahren in der Whitehead Street, am Leuchtturm von Key West, nur einen Katzensprung von Kuba entfernt. Mit seiner zweiten Frau Pauline Pfeiffer verbrachte er in Südflorida eine eigentlich glückliche Zeit, er schrieb viel und gut, zwei Söhne wurden ihm geboren, er hatte beachtlichen Erfolg. Doch der kernige Schriftsteller wird in seinem Wohlfühl-Paradies von einer zunehmenden inneren Unruhe und Getriebenheit gepackt. 

Die neu entdeckte Geschichte spiegelt das Innere des Ernest Hemingway wider. Sein Glück lässt sich nicht im Gewusel der Großstadt finden, sondern nur auf dem Wasser. Der Titel der Erzählung ist wunderbar gewählt. Pursuit As Happiness, das Streben als Glück, liegt in der DNA des Menschen, der Titel spielt an auf eine Passage der US-Unabhängigkeitserklärung, das Streben nach Glück, dem Pursuit Of Happiness. Mit Jagd als Glück hat der Focus die Short Story überschrieben, auch damit trifft man den Punkt, die Geschichte ist kenntnisreich und einfühlsam von Jobst­-Ulrich Brand übersetzt.

Das Entstehungsdatum der kurzen Erzählung bleibt im Dunkeln, sie ist vom Autor nicht datiert. Seán Hemingway schätzt weit, zwischen 1936 und 1956. Es tauchen die alten Freunde aus Havanna auf, Constante, der Barkeeper des El Floridita, der kubanische Kapitän der Anita, Carlos Gutiérrez. Der Stift mit dem Lokalkolorit ist von Hemingway kräftig gezogen, ich vermute deshalb, dass die Erzählung spät entstanden ist. Denn der Amerikaner lebte erst seit 1939 voll auf Kuba. Wie auch immer, fast auf den Tag genau an seinem 121. Geburtstag darf man Ernest Hemingway in den Medien neu entdecken. 

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