
Mit dem Ableben von Mario Vargas Llosa endet die Epoche der lateinamerikanischen Boom-Generation. Vieles hat der Peruaner sich von seinem Nobel-Kollegen Ernest Hemingway abgeschaut.
Am Malecón Paul Harris wohnte Vargas Llosa in einer gigantischen weißen Villa mit Blick auf den Pazifik. Dort auf der Anhöhe über der Brandung des Meeres in Limas feinem Stadtteil Barranco waren Don Mario und seine Ehefrau Patricia allerdings nur selten anzutreffen. Eher konnte man ihnen in London, Barcelona oder Madrid über den Weg laufen. Die spanische Hauptstadt wurde in den letzten Jahrzehnten das neue Zuhause, 1993 nahm der Schriftsteller zusätzlich die spanische Staatsbürgerschaft an.
Das erste Mal traf ich Mario Vargas Llosa Anfang der 1980er Jahre in Lima. In den Reichenviertel von Perus Hauptstadt, in Miraflores und San Isidro, hingen damals über Nacht Hunde mit den Hinterpfoten an Laternenpfähle und im Maul der toten Viecher steckte eine Stange Dynamit. Die Drohung schickte eine maoistische Terrorgruppe, die sich die Bezeichnung Sendero Luminoso zugelegt hatte. Poetisch war beim Leuchtenden Pfad nur der Name. Am Ende von 10 Jahren Terrorschrecken standen 70.000 Tote.
Geboren wurde Jorge Mario Pedro Vargas Llosa im März 1936 in Arequipa, dem Zentrum im Süden Perus. Der Vater Ernest arbeitete als Telegraphist und Flugplatzfunker in Tacna, die Mutter Dora entstammte dem angesehenen Bildungsbürgertum, ihr Vater wirkte als Präfekt in Piura. Im kolonialen Arequipa, einem großen Dorf, laufen die Uhren gemächlich über den Tag. Mit Lima, dem hektischen Getöse und seinem unsteten Bürgertum, ist Vargas Llosa eigentlich nie richtig warm geworden. Schon in jungen Jahren zog es ihn nach Europa, nach Paris und Barcelona.
Mario Vargas Llosa hat über zwei Dutzend Romane veröffentlicht. Kritiker und Leser loben vor allem sein Frühwerk. Die Stadt und die Hunde (La ciudad y los perros), Gespräch in der Kathedrale (Conversación en La Catedral) und Das grüne Haus führten weltweit zu seinem Durchbruch als Autor. Der Peruaner überzeugte als ein opulenter Geschichtenerzähler und als ein vollendeter Handwerker der Sprache. Dabei orientierte er sich am Konzept des totalen Romans und des komplexen Erzählens. Die Aufgabe dieser Literatur liegt darin, ein umfassendes Abbild der Wirklichkeit in all seinen Facetten zu erfassen.
Tollkühn hat sich Mario Vargas Llosa im Jahre 1990 in ein Abenteuer gestürzt, so bunt und wild wie aus dem Roman. Als haushoher Favorit gestartet, bewarb er sich um das Präsidentenamt seines vom sozialistischen Populisten Alan García gründlich ins Elend herunter gewirtschafteten Landes. Doch Vargas Llosa verlor deutlich gegen einen unbekannten Agraringenieur japanischer Abstammung mit Namen Alberto Fujimori. Diese Niederlage hat Vargas Llosa, den brillantesten Sohn der Nation, schmerzlich getroffen.
Doch die Indios und Mestizen, die Mehrheit der Wähler, hatten ihn einer knappen und harschen Beurteilung unterzogen: zu weiß, zu reich, zu europäisch. Für die Welt der Kultur freilich bleibt es ein Segen, dass Mario Vargas Llosa die Präsidentenwahl im Juni 1990 mit Pauken und Trompeten verloren hat. Sonst hätten die Peruaner einen vorzüglichen Schriftsteller weniger und einen lausigen Präsidenten mehr gehabt.
Unbeschwert fühlte sich MVLL, so wird er in Peru tituliert, vor allem in der frankophonen Welt. Im Februar 2023 wurde er – als erster nicht französisch schreibender Autor – in die ehrwürdige Académie française aufgenommen. Diese Ehre bedeutete ihm viel, den die schwierigen Anfangsjahre hatte er in Paris verbracht. Wie seine Vorbilder Jorge Luis Borges und Ernest Hemingway.

Dieses Foto hätte MVLL gefallen. Zusammen mit Ernest Hemingway in einem Straßencafé von Lima. Solches gelingt nur der KI, hier aus der AI Grok-Fabrik.
Die Parallelen zwischen Hemingway und Vargas Llosa fallen ins Auge. Beide kommen aus gutbürgerlichen Familien und haben blutjung als Journalist angefangen. Ernest Hemingway mit 18 Jahren im Oktober 1917 beim Kansas City Star, Mario Vargas Llosa – noch im Schulalter – in den Sommerferien 1952 bei La Crónica in Lima.
Bei dem bärtigen Kollegen aus Oak Park hat sich Vargas Llosa den Aufbau eines Spannungsbogens abgeschaut, ebenso wie das Anlegen einer Dialogführung. Alles nicht eins zu eins, vielmehr gelingt es dem Peruaner, die Techniken kreativ auf den magischen Realismus Lateinamerikas umzulegen. Mario Saavedra-Pinón, einer der großen Publizisten Perus, meint, Vargas Llosa schreibe als Journalist mindestens ebenso gut wie als Romancier. Gleiches darf auch für Ernest Hemingway gelten.
Guter Journalismus als Lehrklasse für gute Romane. So funktioniert es bei vielen. Das Leben als Abenteuer, auch diese Maxime teilt Mario Vargas Llosa mit dem bärtigen Kollegen aus Oak Park. Der Peruaner ging wie Ernesto hinaus in die Welt, er reiste umher, nicht als Tourist oder zur Erholung, sondern zur Inspiration, als jemand, der eintauchen will in eine fremde Kultur. Mit wachem Auge suchte er Kontakt zu den Menschen und war voller Neugier auf ihre Geschichten.
Im Jahr 1976, am Rande einer Filmvorführung in Mexiko-Stadt, gab es eine Prügelei zwischen Mario Vargas Llosa und dem Rivalen Gabriel García Márquez. Der körperlich kleinere Kollege aus Kolumbien trug bei dieser Handgreiflichkeit ein blaues Auge davon. Bei der Keilerei ging es nicht um Literatur oder Politik, sondern um eine schöne Frau. Solche Tatkraft unter Schriftstellern kommt einem bekannt vor, denn auch Hemingway war dafür gerühmt, mit seiner Rechten schon mal einen Boxer-Haken zu setzen.
Er hatte ein langes, abenteuerliches und fruchtvolles Leben, dies schrieb sein ältester Sohn Álvaro zum Ableben des Nobelpreisträgers am 13. April 2025 auf X. Nun ist die Stimme von Mario Vargas Llosa für immer verstummt. Die Welt verliert einen fabelhaften Erzähler, einen meinungsstarken Mann der Mitte und einen sympathischen Kerl obendrein. Das Ableben des 89-Jährigen in Lima macht schmerzhaft bewusst, dass eine ganze Literatur-Epoche nun endgültig an ihr Ende gelangt ist.
Wie er der Nachwelt in Erinnerung bleiben möchte? Mario Vargas Llosa hebt zur Abwehr die Hände. Solche Gedankengänge sind ihm fremd. „Ich schreibe nicht gegen den Tod. Ich schreibe für das Leben.“
Dr. Wolfgang Stock lebt als Journalist und Buchautor in Herrsching am Ammersee. Er kennt Mario Vargas Llosa aus mehreren Begegnungen.
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