Ernest Hemingway
Ernest Hemingway im römischen Colosseum von Nimes, Frankreich, im Jahr 1949. (colorized). Credit Line: Ernest Hemingway Collection. John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston.

Sein Meisterwerk Der alte Mann und das Meer ist ein kurzer Roman. Was schätzen Sie, wie oft kommt der Begriff „Sonne“ auf den gut 100 Seiten vor? Wie oft schreibt Ernest Hemingway von der Sonne und über die Sonne? Geben Sie Ihre Schätzung ab! Viermal? Achtmal? Zehnmal? Weit gefehlt! Ich will es Ihnen verraten: 51 Mal erwähnt der bärtige Nobelpreisträger die Sonne. Statistisch gesehen auf jeder zweiten Seite. Dies muss etwas bedeuten.

Auch in seinen anderen Werken kommt die Sonne häufig vor, selbst in seinen Reportagen und den journalistischen Stücken. Sein Erstling The Sun Also Rises – auf Deutsch: Fiesta – führt die Sonne gar im Buchtitel. Die Sonne tummelt sich als zentraler Topos in seinem Werk und ebenso in seinem Leben. Ernest ist ein Anbeter der Sonne, wie man so schön sagt. Wir kommen dem Sachverhalt langsam näher.

Als Refugium hat er sich der US-Amerikaner die Sonnenregionen dieser Welt ausgesucht. Er liebt die Wärme und die Behaglichkeit. Andalusien, Italien, Florida, Kuba – Landstriche, deren Sonnenstrahlen das Herz enthusiasmieren. In der Hitze erwacht in dem Schriftsteller eine verborgene Energie, ebenso wie das Verlangen, sein Innerstes zu erspüren. Er benötigt die Sonne, die Schwüle der Tropen, um überhaupt schreiben zu können. 

Sein Lebenselixier ist die Sonne. Aus diesem Grund hat ihn die Lebenslust für 30 Jahre nach Key West und Kuba gezogen. Die Sonne und die Hitze bilden für ihn der Gegenentwurf zum kalten Tod. Zudem kitzelt die Glut manch verschüttetes Begehren hervor. Ernest Hemingway verliert sich in jene so selbstverständliche tropikale Anmut, sobald die Natur den wärmenden Lebensregulator aufdreht. 

„Der Fisch ist auch mein Freund“, sagte er laut. „So ein Fisch ist mir noch nie untergekommen. Aber ich muss ihn töten. Ich bin froh, dass wir nicht versuchen müssen, die Sterne zu töten.“
Stell dir vor, ein Mann müsste jeden Tag versuchen, den Mond zu töten, dachte er. Der Mond läuft weg. Aber stell dir vor, ein Mann sollte jeden Tag die Sonne zu töten versuchen? 

Dieser Kerl aus dem kühlen Mittelwesten der USA könnte sich – trotz des abträglichen Lebenswandels – als Apostel der Sonne anbieten. Es entspräche seinem Naturell: Denn die Sonne bildet den Gegenentwurf zum Kopfbestimmten, den Gegenspieler der kalten Räson. Die Tropenhitze steht über Ratio und Intellekt. „Ich verstehe von diesen Dingen nichts, dachte er. Aber es ist gut, dass wir nicht versuchen müssen, die Sonne, den Mond oder die Sterne zu töten. Es reicht, dass wir vom Meer leben und unsere wahren Brüder töten.“

Die Sonne und das Übernatürliche – so nenne ich es mal – gehören zusammen. Der Naturbursche Ernest sieht und spürt dies sogleich. Dort vor ihnen, so weit er sehen konnte, so weit wie die ganze Welt, groß, hoch und unvorstellbar weiß in der Sonne war der flache Gipfel des Kilimandscharo. Und dann wußte er, dorthin war es, wohin er ging. Weiß und unschuldig in der Sonne. Die Sonne zieht ihn magisch an. Rätselhaft und unerklärlich.

Im Vorzitat zu The Sun Also Rises wird der Rabauke vom Michigan See deutlich. Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie wieder daselbst aufgehe. So steht es in Prediger Salomo. Das ist die Bibel, bekanntlich die Pflichtlektüre eines jeden Atheisten. Etwas später finden wir: Als ich mich aber umsah nach all meinen Werken, die meine Hände gemacht hatten, und nach der Mühe, die ich mir gegeben hatte, um sie zu vollbringen, siehe, da war alles nichtig und ein Haschen nach Wind, und nichts Bleibendes unter der Sonne!

Nichts Bleibendes unter der Sonne. Nur die Sonne wird bleiben, was immer mit der Sonne gemeint sein mag. Ernest Hemingway betet die Natur an – welch eine Metapher! – und hat sich die Sonne als kraftvollstes Teil der Natur ausgesucht. Kein Götzenbild wie Geld oder Schönheit, stattdessen verehrt er die Natur. Der Nobelpreisträger von 1954 gefällt sich im Leben als Lästerzunge, er kommt dem spirituellen Kern des Glaubens in seinen Werken allerdings näher als so manch Gottesfürchtige.

Die Sonne steht als starkes Symbol für die strahlende Natur. Für das Nicht-Begreifbare und das Überirdische. Für Gott, wenn ich etwas altmodisch formulieren darf. Ernest Hemingway. Ein Mann, der Gott umarmen will. Wer hätte das gedacht bei diesem Rüpel? Er sah in den Himmel hinauf und dann zu seinem Fisch. Er sah bedächtig nach der Sonne.

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