Auf den Fersen von Ernest Hemingway

Autor: Wolfgang Stock Seite 5 von 58

Übersetzer Werner Schmitz: Wie Ernest Hemingway dem Leser auf die Sprünge hilft, das ist große Kunst

Werner Schmitz. Der Rheinländer ist seit 40 Jahren der deutsche Übersetzer von Ernest Hemingway. © W. Schmitz

Werner Schmitz ist die deutsche Stimme des Ernest Hemingway. Der gebürtige Kölner vom Jahrgang 1953 hat Glücklich wie die Könige (Ausgewählte Briefe) (1984), Gefährlicher Sommer (1986), Der Garten Eden (1987), Reportagen 1920-1924 (1990), Neues vom Festland (1992), Die Wahrheit im Morgenlicht (1999), Paris – Ein Fest fürs Leben (2011), Der alte Mann und das Meer (2012), Fiesta (2013), Schnee auf dem Kilimandscharo und andere Kurzgeschichten (2015), In einem anderen Land (2018) und Wem die Stunde schlägt (2022) übersetzt oder neu übersetzt.

Neben Ernest Hemingway hat Werner Schmitz sich einen Namen als Übersetzer von Paul Auster, Malcolm Lowry, Philip Roth, John le Carré und anderen gemacht. Er hat ursprünglich Volkswirtschaftslehre studiert, bevor er Übersetzer wurde. Werner Schmitz lebt in Celle.

Mit Hemingways Welt spricht Werner Schmitz über seine Tätigkeit als Übersetzer von Ernest Hemingway.

Wenn man ein Dutzend Werke eines Schriftstellers übersetzt, rückt dieser einem mit der Zeit emotional näher?
Ich hatte fast seit Beginn meiner Übersetzertätigkeit mit Hemingway zu tun. Gleich als erstes hat man mir als noch relativ unerfahrenem Übersetzer die Briefe Hemingways anvertraut, und dort ist er mir schon sehr nahe gekommen, noch näher in der psychoanalytischen Hemingway-Biographie von Kenneth Lynn, die ich ebenfalls übersetzen durfte. Seine Romane und Erzählungen, die ich dann in den folgenden Jahrzehnten übersetzt habe, sind ja nicht wirklich autobiographisch, auch wenn sie natürlich viel über ihn aussagen. In meiner Jugend hatte ich einiges von ihm gelesen und einen eher zwiespältigen Eindruck von ihm als Menschen gewonnen. Mittlerweile glaube ich ihn ganz gut zu verstehen und kann manches nachvollziehen, worüber ich vor vier Jahrzehnten noch den Kopf geschüttelt hätte.

Bleibt eine professionelle Distanz?
Die professionelle Distanz, die ich grundsätzlich bei allen Autoren zu wahren versuche, die ich übersetze, ist mir über die 40 Jahre, die ich mich mittlerweile mit Hemingway befasse, ein wenig verloren gegangen. Was ich nicht unbedingt als nachteilig empfinde, weil persönliche Nähe natürlich dabei hilft, schwierigere oder dunklere Stellen zu verstehen, die mir sonst vielleicht unverständlich geblieben wären.

Als Mensch war er ja ein ziemlicher Kotzbrocken. Ein Schnapsbruder, ein Frauenheld, ein Wüterich. Mögen Sie ihn trotzdem?
Doch, ich mag ihn trotzdem. Menschliche Schwächen sind ja nichts Unsympathisches, erst recht bei denen, die so viel aus ihrem Leben machen und so großartige Kunstwerke erschaffen, und wenn man dazu nimmt, wie dramatisch und traurig sein Leben geendet hat …

Warum ist er heute noch so populär? Was hat er als Autor richtig gemacht?
Dass er heute noch so populär ist wie vor 50 oder 80 Jahren, wage ich zu bezweifeln. Seine frühere Popularität erwarb er sich schließlich mit Eigenarten und Verhaltensweisen, die dem jetzt herrschenden Zeitgeist diametral entgegengesetzt sind. Ich vermute, heute wird er eher heimlich bewundert.

Wer Ernest Hemingway übersetzt, muss sich in Macho-Disziplinen auskennen. Fischen, Jagen, Boxen, Baseball, Stierkampf. Dazu kubanisches Spanisch. Wie meistert ein Übersetzer diese Herausforderungen?
Möglichst durch Lernen. Alles selbst nachmachen wäre sicher hilfreich, ist aber mir jedenfalls nicht möglich. Aber ich habe mir zum Beispiel von Anglern oder Sportfachleuten das nötige Vokabular erklären lassen, und ich kenne Spanisch-Übersetzer, die sehr auskunftsfreudig sind.

Ihrer Vorgängerin Annemarie Horschitz-Horst wird häufig vorgeworfen, es mit einzelnen Begriffen nicht so genau genommen zu haben. Auf der anderen Seite hat sie den Hemingway-Sound im Deutschen geprägt. Wie geht man mit so einem Erbe um?
Schwierige Frage. Im Grunde bin ich mit dem Erbe gar nicht umgegangen, sondern habe Hemingway ohne genauere Kenntnis der alten Übersetzungen übersetzt, was insbesondere bei den Erst-Übersetzungen aus dem Nachlass naturgemäß sowieso nicht möglich gewesen wäre. Und was den Umgang mit einzelnen schwierigen Begriffen angeht, muss ich meine Vorgängerin in Schutz nehmen: Heute findet man im Internet so ziemlich alles, nicht nur ausführlichste Interpretationen fast aller Texte Hemingways, sondern auch unzählige Glossare zu Themen wie Fliegenfischen, Hochseeangeln, Stierkampf und so weiter. Da hat man es schon leichter, einzelne Begriffe genauer wiederzugeben.

Wie schafft man es, die für Ernest Hemingway so typische Sprachmelodie im Deutschen hinzubekommen?
Ich hatte bei der Lektüre Hemingways im Original ziemlich von Anfang an einen deutschen „Sound“ im Kopf und mir überlegt, wie ich diese scheinbar „einfache“ Sprache übersetzen könnte, ohne ins Einfältige abzurutschen. Sehr geholfen hat mir die Bemerkung Hemingways, er strebe danach, so zu schreiben wie Cézanne malt. Das heißt, die Wirklichkeit – er selbst spricht oft von „Wahrheit“ – ohne jedes Beiwerk abbilden, reduziert und schnörkellos, etwa nach dem Motto: „Die Straße war weiß, die Bäume grün, die Berge braun.“ Ähnlich wie das Gehirn des Betrachters die von Cézanne nur grob gemalten Szenen zu einer „realen“ Landschaft ergänzt, so dass man etwas viel Detailreicheres wahrnimmt als tatsächlich auf der Leinwand vorhanden ist.

Was wir ja auch bei seinen Dialogen bemerken…
So ist es. Hemingway lässt seine Protagonisten in den Dialogen gerade so viel sagen, dass die Vorstellungskraft des Lesers gefordert ist, sich den Rest selbst zu denken – und mit welchen Mitteln Hemingway dem Leser dabei auf die Sprünge hilft, das ist große Kunst, die ich immer wieder bewundere.

But a man is not made for defeat. Ein Mann oder ein Mensch? Er darf nicht aufgeben. Oder: Er darf sich nicht besiegen lassen. Wie weit sollte ein Übersetzer die Schraube ins Interpretatorische drehen?
Ich denke, Hemingway, der alte Macho, spricht hier

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Mark Twain und Ernest Hemingway werfen zerschlissenen Ballast ab

Nur scheinbar ein Kinderbuch. Mark Twain: The Adventures of Huckleberry Finn.

Während der Boston Tea Party, als Zeichen der Auflehnung gegenüber dem Kolonialherrn Großbritannien, warfen 1773 erboste US-Bürger Ladungen Tee in das Hafenbecken der ostamerikanischen Küstenmetropole. Man wollte sich nicht länger von der Muttermacht gängeln und bevormunden lassen. Wesentlich friedfertiger ging es hundert Jahre später zu.

Denn auch literarisch will man nun auf eigenen Beinen stehen. Es ist Mark Twain, der die amerikanische Literatur von diesem dünkelhaften englischen Versformat befreit und hin zu einer vitalen Modernität führt. Mark Twain, der eigentlich Samuel Langhorne Clemens heißt, ist noch keine 50 Jahre alt, als er im Dezember 1884 The Adventures of Huckleberry Finn veröffentlicht. Dieses Buch, fälschlicherweise oft als Kinderbuch betrachtet, sollte die amerikanische Literatur verändern.

Er ist der Erfolgreichste, der die Manierismen der britischen Literatur hinter sich lässt und  – oh shocking! – sich offen und ehrlich an nicht privilegierte Männer und Frauen wendet. Auf einmal schreibt da jemand über die Welt der einfachen Menschen, artikuliert ihre Hoffnungen, Träume und Ambitionen. Da geht es nicht mehr nur um hartherzige Adelige in schottischen Manor Houses, um das snobistische Geschehen im viktorianischen London oder um die feinen Jamben des William S.

Vielmehr erzählt der Mann aus Missouri in Huckleberry Finn die Geschichte eines Streuners vom Lande. In einer einfachen Sprache lässt Mark Twain in der Ich-Perspektive einen jugendlichen Außenseiter zu Wort kommen, der jenseits aller Gutbürgerlichkeit seine Abenteuer am Mississippi erlebt und dabei eine wunderbare Erkenntnis ans Licht bringt: den Wert von Kameradschaft, von Menschlichkeit und von Charakterstärke. Der ungebildete Huck steht wie selbstverständlich auf der Seite des Sklaven Jim, als es darauf ankommt. Amerikanität wird nicht mehr definiert aus imperialer Sicht, sondern über Humanität und Aufrichtigkeit. 

Mark Twains Werke sind weniger Kinderbücher, vielmehr bissige Satiren gegen religiöse Heuchelei, korrupte Politiker und geldgierige Kleinbürger. In den kurzweiligen Lausbuben-Geschichten von Huckleberry Finn und Tom Sawyer entlarvt der scharfzüngige Twain mit genauer Beobachtungsgabe den alltäglichen Rassismus und die vernagelte Bigotterie der weißen Mittelschicht im Süden der USA.

Dass sich ein weißer Junge, der in einem Sklavengebiet geboren und aufgewachsen ist, so nachdrücklich und ehrlich für die Menschenrechte der Schwarzen einsetzt, gründet eine der Schönheiten dieses Romans. Auch in anderen Ländern finden wir Autoren, die scheinbar Kinderbücher verfasst haben, Antoine de Saint-Exupéry in Frankreich oder Erich Kästner in Deutschland. Doch es ist ein wunderbarer Trick: Denn all die kindlichen Figuren leben den Erwachsenen die Werte von humaner Gesinnung und sozialem Miteinander vor. 

Für viele Autoren der folgenden Generation wird Mark Twain, er ist vom Jahrgang 1835, zu Vorbild und Vaterfigur. Für Jack London oder John Steinbeck beispielsweise. Vor allem jedoch für Ernest Hemingway. Hemingway und Twain sind von

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Machtprobe im großen Krieg: Mr. Hemingway gegen Mrs. Hemingway

Die Collier’s-Ausgabe von 30. September 1944 veröffentlicht einen Artikel von Ernest Hemingway, wie auch einen von seiner Ehefrau Martha Gellhorn.

Sechs Artikel schreibt Ernest Hemingway für das US-Wochenmagazin Collier’s aus dem Zweiten Weltkrieg. Der damals schon berühmte Autor berichtet aus London, von der Landung in der Normandie, aus Paris, von der Front in der Schnee-Eifel. Die Reportagen werden zwischen Juli und November 1944 in der viel gelesenen Zeitschrift veröffentlicht. Cabled from Paris steht über dem Text, die Artikel werden über Funk dem Magazin durchgegeben.

Collier’s, im Jahr 1888 von Peter Fenelon Collier gegründet, ist eine linksliberale Wochenzeitschrift, mit einem guten investigativen Journalismus und Beiträgen von zahlreichen Edelfedern. Auch die Cartoons und Illustrationen gehören mit zum Besten in der damaligen Zeit. Mitte der 1940er Jahre erreicht das Wochenmagazin in den USA eine Auflage von 2,8 Millionen Exemplaren.

Anfang 1944 bietet sich Ernest dem Magazin als Kriegsreporter in Europa an. Sein Verhalten gründet einen Tiefpunkt in der Ehe mit Martha Gellhorn. Die dritte Mrs. Hemingway, eine renommierte Journalistin, hat schon für Collier’s aus dem Spanischen Bürgerkrieg berichtet. Und sie ist nicht bereit, nach der Eheschließung beruflich kürzer zu treten.

Are you a war correspondent or wife in my bed?, faucht Ernest 1943 seine Ehefrau an, als Martha ihm ihre Pläne offenbart. Sie möchte aus Europa über den Zweiten Weltkrieg berichten. Ob seine Frau eine Kriegskorrespondentin oder die Frau in seinem Bett sei, die Antwort bekommt er von der resoluten Martha postwendend. Denn die ehrgeizige Journalistin wird sich gegen seinen Willen aufmachen von ihrem sonnigen Refugium Finca Vigía auf Kuba nach Europa.

Collier's Magazine

Einträchtig steht das Ehepaar Ernest Hemingway und Martha Gellhorn im Impressum von Collier’s untereinander. Doch in Wirklichkeit scheppert es.

Was dann kommt, gleicht einer Seifenoper. Der erzürnte Ernest lässt sich in seiner Wut zu einem hundsgemeinen Winkelzug hinreißen. Auch er geht für Collier’s nach Europa, er schreibt für dasselbe Magazin und will so seine Ehefrau vor den Augen der Leser in den Schatten stellen. Und so kommt es, dass Ernest aus dem Zweiten Weltkrieg berichtet, um seiner Gattin eins auszuwischen.

Battle for Paris nennt Ernest eine Reportage, sie beginnt auf Seite 11 in der Ausgabe vom 30. September 1944. Man erwartet einiges. „Hier ist die erste Depesche des Collier’s-Korrespondenten, der selbst lange in der Stadt des Lichts lebte“, wird der Bericht angekündigt.

Während dieser Zeit wurde ich von den Kämpfern der Résistance als „Herr Hauptmann“ angesprochen. Das ist im Alter von fünfundvierzig Jahren ein sehr niedriger Rang, und so sprachen sie mich in Gegenwart von Fremden gewöhnlich mit „Herr Oberst“ an. Denn sie waren ein wenig aufgebracht und beunruhigt über meinen sehr niedrigen Rang. Und einer von ihnen, dessen Aufgabe es seit einem Jahr war, sich Minen zu schnappen und deutsche Munitionslastwagen und Stabswagen in die Luft zu jagen, fragte mich vertraulich: „Mein Hauptmann, wie kommt es, dass Sie trotz Ihres Alters, Ihrer zweifellos langen Dienstzeit und Ihrer offensichtlichen Verwundungen (verursacht in London durch den Aufprall mit einem stehenden Lastwagen mit Wassertank) immer noch nur Hauptmann sind?“ „Junger Mann“, antwortete ich ihm, „ich konnte im Rang nicht aufsteigen, weil ich weder lesen noch schreiben kann.“

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Battle for Paris überschreibt Hemingway seine Reportage.

Es könnte lustig sein, wenn alles nicht so ernst wäre. Als Ungedienter, Ernest ist 1918 durch die Musterung gefallen, plagt ihn mal wieder sein Komplex eines nicht vorhandenen Offiziersrangs. Wenn es nur das wäre! Weil Ernests Gedanken vornehmlich um ihn kreisen, beißt sich Battle for Paris an Äußerlichkeiten fest. Diese selbstverliebte Geschwätzigkeit des Autors stösst mehr als einmal sauer auf. Doch Hemingway in seiner Eigensucht sieht nur sich selbst, dieser Krieg, der die Welt aus dem Fundament reißt, erscheint wie ein Ausflug zum Baseball-Match gegen die Mannschaft aus der Nachbarstadt.

Welch ein Unterschied zu seinen Reportagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg! Sechs Jahre zuvor hat er leidenschaftliche Berichte aus Spanien geliefert, detailgenau und anschaulich, die Sprache ist engagiert und packend. Im Spanischen Bürgerkrieg erreicht der Journalist Hemingway wohl den Höhepunkt seiner Kreativität. Doch nun – im Zweiten Weltkrieg – plätschern seine Reports an der Oberfläche, dieser begnadete Stilist und Beobachter bleibt störrisch, er geht nicht in die Tiefe.

Ganz anders Martha Gellhorn, die derweil in Europa auf eigenen Spuren wandelt. In der Collier’s-Ausgabe vom 30. September 1944 kommt es unfreiwillig zu einem Showdown. In diesem Heft wird ein langer Artikel von Ernest, als auch eine dreiseitige Reportage von Martha veröffentlicht. Hemingway gegen Hemingway. Er erzählt

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10 ungewöhnliche Hotel-Tipps: Übernachten, wo Ernest Hemingway genächtigt hat

Platz 1: Hôtel Jacob et d’Angleterre, Paris
Sein erstes Hotel in der alten Welt. Dezember 1921. In der Rue Jacob 44, im Stadtteil Saint-Germain-des-Prés, steigen Ernest Hemingway und Hadley ab. Noch heute ist das kleine malerische Hotel ein Geheimtipp in Paris.
« von 10 »

Er hat ein schönes Zuhause. Finca Vigía, für ihn das Paradies auf Erden, dient als Idyll des Rückzugs und der Tollheit zugleich, ein tropischer Garten Eden auf Kuba, der alles bietet, was ein Mann zum glücklich sein so braucht. Ernest Hemingway liebt die Hitze, Klimaanlagen oder Ventilatoren bleiben bei ihm meist ausgeschaltet. Die glutheißen Tropen sind seine Sonnen-Tankstelle für die kühle Welt da draußen.

Für seine Reisen nach Italien und Spanien, für seine Abenteuer und Eskapaden. Die Liste der Länder, die Ernest Hemingway bereist, ist lang. Und zwar wirklich bereist, nicht nur mit dem Finger über den Globus. Mit Haut und Haaren eingetaucht in die fremde Welt. Der Amerikaner aus Chicago hat 21 Jahre auf Kuba gelebt, sieben Jahre in Paris. Italien und Spanien kennt er wie seine Westentasche. Dutzende Länder in Europa hat er kreuz und quer durchstreift. Afrika und Asien hat er besucht für viele Monate. 

Seine Erzählungen sind verbrieft. Ernest Hemingway ist kein Autor, der vom Pferd erzählt. Natürlich, ein wenig Aufplustern und Aufblasen. Große Reden schwingen und auf den Putz hauen, auch das

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‚The Sun Also Rises‘ und ‚Fiesta‘. Ein Buch. Zwei verschiedene Titel. Weshalb?

The Sun Also Rises gilt als bahnbrechendes Werk für die literarische Moderne.

Es ist der vielbeachtete  Erstling von Ernest Hemingway. The Sun Also Rises. Im Oktober 1926 bei Scribner’s in New York erstverlegt. Das Thema des Romans: Lebenshungrige amerikanische Expats im Paris der 1920er Jahre begeben sich 1925 ins baskische Pamplona zu den damals nur lokal bekannten Sanfermines, zu dem Stadtfest im Norden Spaniens.

Die Fiesta de San Fermín – in Erinnerung an Firminus, den katholischen Märtyrer – werden seit 1591 alljährlich für eine Woche im Juli gefeiert. Die zahlreichen volkstraditionellen Riten sehen  als Höhepunkt den Encierro, die tägliche Hetzjagd der Bullen durch die Altstadt von Pamplona. Es wird Ernest Hemingway sein, der durch seinen Roman das Spektakel weltbekannt machen sollte.

Mit The Sun Also Rises setzt die Moderne in der angelsächsischen Literatur eine kräftige Duftnote. Neues Thema, neuer Stil, neuer Autor. Und – über allem – eine zeitgemäße Sichtweise der Dinge. Die verlorene Generation verfügt über einen neuen Wortführer. Dem Buch stellt der Autor Ernest Hemingway merkwürdigerweise ein Bibelzitat voran.

The Sun Also Rises hat Ernest Hemingway sein Werk genannt, auf eine Bibelstelle anspielend. Oritur sol et occidit et ad locum suum revertitur ibique renascens. Im Alten Testament wird Kohelet – in der Lutherbibel unter Der Prediger Salomo – beschieden: Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihren Ort, dass sie wieder daselbst aufgehe, so Kapitel 1, Vers 5. The Sun Also Rises. Der Atheist hat seinen Buchtitel. Die Sonne geht neuerlich auf.

Neben dem Vers aus dem Prediger Salomo hat Hemingway dem Buch ein Zitat seiner Mentorin Gertrude Stein vorangestellt, das bald zum Modespruch des Zeitgeistes werden sollte: „Ihr alle seid eine verlorene Generation.“ Auch diese Umschreibung zieht sich wie ein Leitfaden durch das ganze Buch. Das Motto von Gertrude Stein skizziert treffend die Leere und die Sinnsuche dieser Generation nach dem Zivilisationsbruch durch den Ersten Weltkrieg.

Die Arbeit an dem Roman beginnt Ernest Hemingway Ende Juli 1925 in Valencia, er schreibt das Manuskript im August in Madrid weiter, später in San Sebastian und im französischen Hendaye. Im September schließt der junge Amerikaner dann den ersten Entwurf in seinem Wohnort Paris ab. Im folgenden Winter legt er im österreichischen Skiort Schruns letzte Hand an, bevor er die Endfassung im April 1926 an seinen Lektor Maxwell Perkins bei Charles Scribner’s Sons in New York schickt.

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Eine italienische Ausgabe von Fiesta bei Mondadori mit einer Illustration von Pablo Picasso.

Literarisch ist Hemingways Roman ein revolutionärer Aufschlag Mitte der 1920er Jahre. Während viele Kollegen noch dem betulichen Charles Dickens-Schnickschnack nachhängen, schildert der ehrgeizige Novize aus Chicago die innere und äußere Zerrissenheit der Menschen und ihrer Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Seine spröde Prosa wirkt lebensnah und trifft den Nerv der ratlosen jungen Männer und Frauen.

Ein Jahr später wird der Roman in Großbritannien verlegt, überraschenderweise unter einem anderen Titel. Denn der feine Verlag Jonathan Cape aus London kann mit dem aus der Bibelzeile entlehnten Titel wenig anfangen. Im Gegenteil, man fürchtet Proteste, wenn das Buch hinter einem Bibelzitat läuft. Wo es doch in Hemingways Erstling kräftig zur Sache geht.

Und so tauft ihn der englische Verlag prompt in Fiesta um. Die meisten anderen Verlage in Europa – Deutschland, Spanien und Italien vorneweg – entscheiden sich ebenfalls für Fiesta anstatt des sperrigen The Sun Also Rises. Fiesta, spanisch für Fest oder Feier. Heute würde man Party sagen. Der neue Titel, auch wenn ihm die philosophische Tiefe des Originals verloren geht, trifft den Inhalt des Buches nahezu perfekt.

Denn in The Sun Also Rises aka Fiesta wird nichts ausgelassen, was zwischen Menschen so Menschliches passieren kann. Liebeleien, Seitensprünge, Promiskuität, Obsessionen, Alkoholexzesse. Mit all diesem

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Ernest Hemingway: Es war alles nada, natürlich nada, nichts als nada

Ernest Hemingway Scribner's
Das New Yorker Scribner’s Magazine, Nummer 3/1933. Mit Ernest Hemingways Short Story A Clean, Well-Lighted Place

It all was nada y pues nada y nada y pues nada. Our nada who art in nada, nada be thy name thy kingdom nada thy will be nada in nada as it is in nada. Give us this nada our daily nada and nada us our nada as we nada our nadas and nada us not into nada but deliver us from nada; pues nada. Hail nothing full of nothing, nothing is with thee. 

Das ist starker Tobak. Eine verstörende Passage in der Erzählkunst des Ernest Hemingway. Aus der Kurzgeschichte Ein sauberes, gutbeleuchtetes Café (im Original: A Clean, Well-Lighted Place), einer vierseitigen Short Story, die erstmals im März 1933 im Scribner’s Magazine veröffentlicht worden ist, ebenso wie später in seiner Sammlung von Kurzgeschichten Winner Take Nothing aus dem Oktober desselben Jahres.

In einem kleinen spanischen Straßencafé sitzt, wie fast jeden Abend, weit nach Mitternacht nur noch ein einziger Gast, ein alter tauber Mann vor einem Glas Brandy. Er ist ein einsamer Mensch, den Tod vor Augen, und ohne jede Hoffnung. Ein junger und ein alter Kellner warten, dass der greise Mann das Café verlässt, um endlich Feierabend zu machen. Der alte Kellner hat, im Gegensatz zu seinem jüngeren Kollegen, Verständnis für den alten Mann, der sich letzte Woche gerade hat umbringen wollen.

Aber er wusste, es war alles nada y pues nada y pues nada. Nada unser, der du bist im nada, nada sei Dein Name, Dein Reich nada, Dein Wille nada, wie im nada also auch auf nada. Unser täglich nada gib uns nada, und nada uns unsere nada, wie wir nadan unsern nadan. Nada uns nicht in nada, sondern erlöse uns von dem nada; pues nada. Heil dem Nichts, voll von Nichts, Nichts ist mit dir. 

Nada, spanisch, nichts. Nichts. Alles ist nichts. Nada de nada. Überhaupt nichts. In dem Nada-Selbstgespräch des älteren Kellners wird deutlich, dass die Angst vor dem Nichts das menschliche Leben überschattet. Erlöse uns vor dem Nada.

Offenkundig parodiert Ernest Hemingway das Vater unser des Christentums. Dem Autor bietet die Religion wenig Trost, der Katholizismus endet auf dem Spottplatz. Das Vaterunser, das heilige Gebet als Fürbitte, reicht keinen Balsam. Der Versuch eines Gesprächs mit Gott, so Hemingway, dämlich und zwecklos. Es bringe nichts. Nada.

Philosophisch wird Hemingways Passage von Existenzialismus und Dadaismus geprägt. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. So lautet die Dada-Wortschöpfung seiner Mentorin Gertrude Stein. Seine Pariser Zeit schlägt durch. Die Absurdität des Daseins, die Existenzangst und die Vereinsamung des Menschen, Sartre und Camus haben es 30 Jahre später ähnlich erklärt wie Hemingway in seiner Kurzgeschichte.

Religion bietet keine Linderung, denn die Existenz Gottes wird verneint. Der Menschen definiert sich als biologisches Wesen, als Vernunftwesen, fast gottähnlich. Letztlich führt der Existentialismus zu einem übersteigerten Nihilismus, für den alles Bestehende null und nichtig erscheinen muss. Und das Schlimmste: Nirgends findet sich Hoffnung.

Nada ist Hemingways stilistischer Kniff. Er wusste, es war alles verfluchte Scheiße, schreibt Hemingway in anderem Zusammenhang in der Kurzgeschichte So, wie du niemals sein wirst. Dieser Begriff Scheiße würde in der Café-Haus-Szene nicht funktionieren. Nada ist besser. Existentialismus, Blasphemie, eine Abrechnung, eine Parodie – man kann alles hineinlegen in das Nada. Literarisch gesehen ist die Passage durch und durch

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Ernest Hemingway berührt einen sensiblen Kern in uns

Ernest Hemingways spanische Ausgabe von Across the River and into the Trees. Veröffentlicht 1950.

Dieser Ernest Hemingway aus Oak Park in Chicago erzählt in seinen Romanen und Kurzgeschichten von all den Schönheiten und all den Widrigkeiten eines menschlichen Lebens. Er tut dies auf seine eigene angenehme und zugleich verstörende Art und Weise. Dafür hat er 1954 den Nobelpreis erhalten. Trotz seiner Riesenerfolge ist dieser Kneipenkaiser ein umgänglicher und bodenständiger Kerl geblieben.

Irgendetwas zieht ihn aus der Heimat hinaus. Paris, Venedig, Andalusien. Die längste Zeit, 21 Jahre, hat Ernest Hemingway auf Kuba verbracht. Er hat Italien und Spanien von ganzem Herzen geliebt. Damals sind dies drei überaus traditionelle und katholische Länder gewesen. Auch er bleibt Traditionalist, mag nicht in der Großstadt leben. Und er mag nach Möglichkeit auch nicht in den USA leben.

Mehr als die Länder liebt Hemingway die Natur. Die Flüsse, die Bäume, die Hügel und die Berge. Und natürlich das Meer. El Mar. Oder La Mar. Er sagt immer: La Mar. So nennen es die Menschen, die es lieben – das Meer ist wie eine Frau. Die Natur ist für den Menschen erbaulich, zugleich aber auch bedrohlich. Er weiß, die Natur und das Meer sind viel mächtiger als jeder Mensch.

Die ewige Natur ist für ihn so etwas wie eine Allmacht, fast gottähnlich. Und Hemingway, darin sieht er seine Aufgabe als Schriftsteller, will das Geheimnis hinter der Macht der Natur verstehen. Der Mann aus Chicago träumt vom „Meer“, aber hinter diesem Bild sucht der Agnostiker die Unsterblichkeit oder zumindest seinen Seelenfrieden.

Wie kein anderer Autor hat Ernest Hemingway die Kunst des prägnanten Satzes beherrscht. Diese direkte Prosa, die sich kurz und bündig liest, aber hinter jeder Zeile mehr bedeutet als das, was im Text selbst gesagt wird. Diese zugeknöpfte Kühle der Sprache passt nicht nur zu Hemingways einsamem Helden, sondern drückt zugleich die Haltung vieler Menschen in ihrem täglichen Kampf ums Dasein aus, wo immer sie sich auf diesem Globus befinden.

In persönlichen Begegnungen mit Frauen und Männern hat Ernest Hemingway deshalb einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Wenn man Menschen trifft, die den Nobelpreisträger kannten und mit ihm zusammen waren, reden sie wie ein Wasserfall über den Autor, über seine Eigenheiten, über sein Werk. Sie hören nicht auf zu plaudern, sie sprechen über ihre innersten Gefühle, auch wenn sie es sonst mit dem Philosophieren nicht so haben.

Das macht den Unterschied zu anderen Autoren aus. Dieser Erzähler hat uns auch mit seiner Lebensgeschichte gefangen genommen. Deshalb hat nicht nur der Literaturprofessor, sondern auch Menschen, wie du und ich seine Botschaft verstanden. Das Stichwort Ernest Hemingway wirkt wie ein geistiger Türöffner, man kann sich stundenlang über diesen Mann unterhalten. Und am Ende weiß man nicht so recht, ob man über den bärtigen Literaten, über seine Verklärung oder gar über die eigenen Wünsche und Träume fabuliert hat.

Ein Leser, der sich auf Ernest Hemingway einlässt, erkennt nach einer Weile, dass sich

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Bukowskis Old Dogs: Und denkt an die alten Hunde…

Charles Bukowski, Love is a Dog from Hell, 1977.

And remember the old dogs
who fought so well:
Hemingway, Celine, Dostoevsky, Hamsun.
If you think they didn’t go crazy
in tiny rooms
just like you’re doing now
without women
without food
without hope
then you’re not ready.

Charles Bukowski,
(1920, Andernach/Germany
– 1994, San Pedro/Los Angeles),

Love Is a Dog from Hell

 

Und denkt an die alten Hunde
die so gut gekämpft haben:
Hemingway, Celine, Dostojewski, Hamsun.
Wenn du glaubst, dass sie nicht verrückt geworden sind
in winzigen Zimmern
so wie du es jetzt tust
ohne Frauen
ohne Essen
ohne Hoffnung
dann bist du nicht bereit.

   ————————–

Y recuerda a los viejos perros
que lucharon tan bien:
Hemingway, Celine, Dostoievski, Hamsun.
Si crees que no se volvieron locos
en habitaciones diminutas
igual que tú ahora
sin mujeres
sin comida
sin esperanza
entonces no estás listo.

   ————————–

Et souviens-toi des vieux chiens
qui se sont si bien battus :
Hemingway, Céline, Dostoïevski, Hamsun.
Si vous pensez qu’ils ne sont pas devenus fous
dans des pièces minuscules
tout comme vous le faites maintenant
sans femmes
sans nourriture
sans espoir
alors vous n’êtes pas prêts.

   ——————————

E ricordate i vecchi cani
che hanno combattuto così bene:
Hemingway, Celine, Dostoevskij, Hamsun.
Se pensate che non siano impazziti
in stanze minuscole
proprio come state facendo voi ora
senza donne
senza cibo
senza speranza
allora non siete pronti.

   ————————

En denk aan de oude honden
die zo goed gevochten hebben:
Hemingway, Celine, Dostojevski, Hamsun.
Als je denkt dat ze niet gek werden
in kleine kamers
net zoals jij nu doet
zonder vrouwen
zonder eten
zonder hoop
dan ben je niet klaar.

   ———————–

I pamiętaj o starych psach
które tak dobrze walczyły:
Hemingway, Celine, Dostojewski, Hamsun.
Jeśli myślisz, że nie zwariowały
w małych pokojach
tak jak ty to robisz teraz
bez kobiet
bez jedzenia
bez nadziei.
to nie jesteś gotowy.

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Vor genau 100 Jahren: Ernest Hemingways erster Encierro in Pamplona

Pamplona
Fiest de San Fermin
Ernest Hemingway
Der Besuch des Bullenrennens im Juli 1923 dient als Grundlage für Ernests Hemingways erste große Erzählung The Sun Also Rises.

Seit Ende 1921 lebt Ernest Hemingway mit seiner Frau Hadley in Paris. Privat reist das frisch vermählte Ehepaar viel und erkundet den Kontinent. Als junger Korrespondent in Europa entwickelt Ernest Hemingway ein genaues Sensorium für Menschen und Milieus. Der 22-jährige Amerikaner aus Chicago erweist sich als messerscharfer Beobachter von Personen und Geschehnissen.

Er hatte gesehen, wie die Welt sich veränderte; nicht nur die großen Ereignisse; obwohl er viele davon miterlebt und die Menschen beobachtet hatte, aber er hatte die feineren Veränderungen gesehen und konnte sich erinnern, wie die Menschen zu verschiedenen Zeiten gewesen waren. Er war dabei gewesen, und er hatte es beobachtet, und es war seine Pflicht, darüber zu schreiben.

Vor allem entdecken die beiden Amerikaner die iberische Halbinsel für sich. Von Gertrude Stein erhalten sie den Tip, den Encierro in Pamplona zu besuchen, die Schriftstellerin aus Pittsburgh und ihre Gefährtin Alice Toklas kennen das Spektakel seit 1915. Noch ist es ein Geheimtipp, ein lokales Ereignis im Baskenland. Erst Ernest Hemingway sollte es mit seinen Erzählungen in das Bewusstsein der Welt katapultieren.

Am 5. Juli 1923 besteigen Ernest und Hadley in Paris einen Zug nach San Sebastian. Von dort geht es weiter nach Pamplona. Am 7. Juli beginnt das Spektakel. Um acht Uhr morgens werden beim Encierro sechs kräftige Kampfstiere mit einem Gewicht von 600 Kilos frei laufend durch die abgeriegelten Straßen der Altstadt bis zur Plaza de Toros gejagt. Auf dieser Strecke von 826 Metern, für die die Stiere keine vier Minuten brauchen, laufen übermütige junge Männer vorweg.

Jeder Mozo, so werden die Läufer genannt, trägt ein weißes Hemd und eine weiße Hose sowie ein rotes Halstuch und eine rote Schärpe. Vor Beginn des Laufes bitten die Mozos an der Statue des Schutzpatrons San Fermín um Beistand „Viva San Fermín! Gora San Fermin!“ Es lebe San Fermín!, rufen die Läufer, auf Spanisch und auf Baskisch.

Im Sommer 1923 ist das Wetter fürchterlich im Baskenland, es regnet und am 10. Juli verzeichnet der iberische Nordosten ein mildes Erdbeben von 12 Sekunden. Der Encierro wird an diesem Tag ausgesetzt. Auch am nächsten Morgen, am 11. Juli, wird es nicht besser. Ein Erdbeben von drei Sekunden folgt und es schüttet unaufhörlich. Das Bullenrennen wird ein weiteres Mal aufgeschoben.

Erst am Nachmittag des 12. Juli 1923 hört es dann endlich auf zu regnen. Um 17,30 Uhr findet das verschobene Bullenrennen mit anschließender Corrida statt. Am nächsten Tag, dem 13. Juli, einem Freitag, haben die Toreros Pech. Zwei Matadores werden

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10 Restaurant-Tipps: Am Tisch mit Ernest Hemingway

Platz 10: El Pasaje, Conil de la Frontera
Sommer 1959. Conil de la Frontera in Andalusien. Ernest speist im volkstümlichen 'El Pasaje'. Meine Empfehlung: Der Atún Rojo, der rote Thunfisch, den es nur in der Gegend um Cádiz gibt. Eine Offenbarung für den Gaumen.
« von 10 »

Ernest Hemingway ist kein Literat für den Elfenbeinturm. Ohne Bodenhaftung fühlt sich dieser kernige Naturbursche nicht wohl, ebenso wenig beim Plausch innerhalb der intellektuellen Crème de la Crème. In der Ferne findet er den Balsam für seine Seele, mitten unter bescheidenen Fischern, zünftigen Schankwirten und bodenständigen Ladenbesitzern, in den Restaurants mit den vorzüglichen Speisen. Auf Kuba, vor den Keys, in Barcelona und Andalusien, in Venedig oder Paris. 

In den Restaurants schreibt Hemingway und hier findet er seine Themen. Er grübelt nach über die wichtigen Themen seiner Welt: Über die Lust am Leben und über die wahre Liebe. Hier macht er sich ebenso seine Gedanken über das Sterben. Die Liebe, das Leben und der Tod – es sind Herausforderungen, die jeden umtreiben. Und es sind die Themen seiner Bücher. Diese Vertrautheit zum Individuum und zu dessen Nöten mag erklären, warum dieser Nobelpreisträger solch enorme Spuren hinterlassen hat, während man sich an die Namen anderer Nobelkollegen jener Jahre kaum mehr erinnern kann. 

Ernest Hemingway, der sich von Freunden gerne Papa rufen lässt, ist nicht unbedingt ein Schreiber für die gebildete Hautevolee. Im Gegenteil. Er geht hinaus in die Welt und hinein in das Leben. Und so tut sich ein beschwingtes Panorama auf vor Ernest Hemingway. Gaumenfreude in allen Variationen, Bier und Wein, ein nie gekanntes Schlaraffenland. Kneipen, Cafés, Bistros, Brasserien, Restaurants. Dazu Pâtisserien und  Boulangerien. Speisen und Getränke – besser geht es nicht auf dieser Welt.

Insbesondere wenn man sich vor Augen hält, dass in seiner Heimat in jenen Jahren eine freudlose Prohibition herrscht. Zu zahlreich sind die kulinarischen Versuchungen, denen ein Amerikaner wo auch immer ausgesetzt wird. Doch er baut nicht nur die Lokalitäten auf als Szenerie, vielmehr fügt er sie in aller Selbstverständlichkeit ein in seinen Alltag. All die wunderbaren Orte und Plätze der Lebensfreude werden somit zu Akteuren seiner Erzählungen.

Beispielsweise entwickeln die Kellner in seinen Erzählungen ein Eigenleben, sie werden von diesem Schriftsteller behandelt wie antike Götterboten. In der Kurzgeschichte Ein sauberes, gutbeleuchtetes Café – die Geschichte spielt zwar etwas später in Spanien, ist von der Machart für Hemingway allerdings schlechthin stilbildend – rücken sie mit einem Mal zu Hauptakteuren auf.

Ernest entwickelt ein gutes Gespür für Menschen. Andernorts ein Job für Aushilfen, verfügt ein Garçon in den eleganten Pariser Restaurants und Brasserien über eine Stellung, die von Kultiviertheit und Tradition geprägt ist. Er kleidet sich auch nicht wie vom Flohmarkt, sondern umhegt den Gast in einem weißen Hemd mit Binder, einer Weste und einer Schürze. Diese Gepflogenheit mag

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