
Es brauchte seine Zeit, bis ich mit diesem Roman so richtig warm wurde. Als ich das erste Mal Fiesta las, da fand ich die Erzählung lau, bisweilen gar langatmig. Bei der nochmaligen Lektüre, Jahre später, da erlebte ich das Sittengemälde aus den 1920ern durchaus anregend. Und wenn ich heute Ernest Hemingways Debüt zur Hand nehme, dann streckt es mich jedes Mal nieder.
Denn Fiesta – im amerikanischen Original heißt das Werk The Sun Also Rises – ist hohe Kunst. Es vergeht kein Wiederlesen, bei dem ich nicht neue Schmucksteine und Kleinode entdecke. Besonders, wenn es gelingt, sich in den historischen Kontext der Geschichte einzufühlen. Es geht um die taumelnde Zeit zwischen den beiden schrecklichen Weltkriegen.
Ernest Hemingways Fiesta fällt im Oktober 1926 in die Welt der Literatur ein wie einst die Jakobiner in die Paläste der Aristokratie. In der Sprache einfach und volksnah, in Botschaft und Wirkung brachial. Der Erste Weltkrieg hat auch die Kultur zerstört. Es braucht etwas Neues, von Tradition gespeist, ein Neustart mit frischen Werten und Idealen. Ebenso sollte das Themen-Panorama sich öffnen und weiten. Und so geht es in Fiesta um die durch den Krieg verlorenen Sicherheiten und um die Sinnsuche in Zeiten der Orientierungslosigkeit.
Allein der neuartige Stil der Erzählung gleicht einer Revolution: kühl, ohne Schnörkel, alles weit weg von jedem viktorianischen Erziehungs-Habitus. Das Geschehen wird vielmehr durch persönliches Erleben des Autors verbrieft, auch deshalb passt das Werk zum Autor. Es ist ein glaubwürdiger Blick durchs Schlüsselloch in die unbekannte Welt hinter den Bergen. Die geschwätzige Blümchen-Prosa der Vätergeneration à la Charles Dickens ist mit einem Schlag passé.
Wie geschickt Ernest Hemingway seine Erzähl-Perspektive anlegt, mag man zu Anfang des 12. Kapitels von Fiesta erkennen. Man liest schnell über diese Passage hinweg und bemerkt dadurch die Finesse des Textes nicht.

So – scheinbar – harmlos fängt das Kapitel 12 von Fiesta an.
Ernesto nimmt uns mit in eine fremde Welt – das wann und wo verrät er hier nicht – und so müssen wir uns selber hineinfinden. Es ist die Zeit nach der Postkutsche und während des Aufkommens der Motorbusse. Wir befinden uns in einem Land am Fuße eines Gebirges, das Ambiente ist bäuerlich, der Ziegenbock springt umher. Der Protagonist steht auf und öffnet das Fenster seines Zimmers, so wie wir nun durch das geöffnete Fenster in die Handlung hinausgeworfen werden. Keine Gefühlsregung wird geäußert, wir müssen uns selber ein Reim auf das Ganze machen.
Unsere Stadt heißt Pamplona. In der nordspanischen Kleinstadt lässt der 27-jährige Hemingway seinen Erstling überwiegend spielen. Mit einem Mal werden die Sanfermines, bis dahin ein lokales Ereignis in einem weitgehend unbekannten Land, mit seinen Stieraufläufen, den Prozessionen und Tänzen ins Bewusstsein der Welt katapultieren. Um die blutige Fiesta herum entwirft der junge Novize ein Kaleidoskop menschlicher Irrungen und Wirrungen.
Die amerikanischen Protagonisten auf Entdeckungsreise in Pamplona lassen kein Laster aus: Abenteuer, Stierkampf, sexuelle Ausschweifungen und vor allem Alkohol. Fiesta ist ein grandioses Epochen-Porträt zwischen zwei schlimmen Kriegen, ein Blick auf die Verlorenheit, die mit viel Schnaps weggetrunken werden möchte. Themen wie Liebe, Sex, Männlichkeit, Exzess und die Suche nach der eigenen Rolle im Leben spielen in dem Roman eine zentrale Rolle.
Durch den Weltkrieg sind die zuversichtlichen Aufbruch-Werte der Belle Époque perdu. Denn die Schlacht ist abscheulich gewesen. Alle Kriege sind grauenhaft, aber dieser war es besonders, wegen seiner Sinnlosigkeit. Wer ist Gegner, wer der Freund? In der Katastrophe zwischen 1914 und 1918 sind die Rollen fließend verteilt, ein Stück ist man in das Inferno hineingeschlittert. Ein Krieg der Schlafwandler, wie es der australische Historiker Christopher Clark treffend umschrieben hat.
Am Ende des Krieges stehen alle als Verlierer da. Deutschland mit Hyperinflation, Reparationen und einer noch größeren Tragödie vor Augen. Aber auch der Gewinner, die USA, sehen einem düsteren Jahrzehnt entgegen, das 1929 in der Weltwirtschaftskrise detonieren wird. Prohibition, Wirtschaftsdepression und die aufkommende Mafia lassen die Zeiten auch in den USA trostlos erscheinen. Die Welt wird in den Abgrund gezogen, es ist eine leidvolle Dekade allerorten.
Und so wird in The Sun Also Rises aka Fiesta nichts ausgelassen, was zwischen erwachsenen Menschen so passieren kann. Liebeleien, Seitensprünge, Obsessionen, Schlägereien, Saufgelage. Hemingway selbst umschreibt seinen Roman als eine verdammt traurige Geschichte, in der aufgezeigt wird, wie Menschen zugrunde gehen. Ich vermute, Ernesto will eigentlich eins draufsetzen und sagen, wie die ‚Menschheit‘ zugrunde gehen kann.

The Sun Also Rises heißt das Original. In Europa wird säkular der Titel Fiesta daraus.
Doch wo bleibt die Hoffnung? Der Autor, der in Paris lebt, deutet sie im biblischen Vor-Zitat gleich zu Beginn seines Buches an. Ein Motto des Predigers Salomo als Denkspruch, es wird zum Leitgedanken von Fiesta. Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich. Dieser Rabauke, der nichts auslässt im Leben, liegt in dieser Hinsicht goldrichtig: Eine Generation geht, eine andere kommt. Das Wesen von Blühen und Vergehen. Hier findet man Trost: Auch das Schlechte wird verblühen, so wie das Gute neu gedeiht.
Das Schöne an Hemingways The Sun Also Rises ist, dass er nicht nur die Orientierungslosigkeit und die Dekadenz des Zeitalters beschreibt, sondern zugleich auch einen Lösungsansatz andeutet. Das Hinauswagen auf unbekanntes Terrain, die Unerschrockenheit und die Entdeckerfreude, die Neugier auf eine neue Kultur. Sich das Andersartige und das Fremde anzuschauen. Andere Menschen und ihre Gepflogenheiten wertzuschätzen.
Und darüber hinaus – wo auch immer – die Stille der Natur zu suchen. Ernest beschreibt, wie er seine äußere und innere Ruhe findet in den Ausläufern der Pyrenäen, an den einsamen Bächen rund um das Kloster Roncesvalles. Durch den Kontrast zur lärmenden Fiesta unten im Pamplona geht der Blick nach oben, in die Berge, in die Ruhe und den Frieden. Möglicherweise ganz in der Höhe.
Abermals bestaunen wir den Zwiespalt, der für Hemingways Werk so typisch ist. Auf der einen Seite das desillusionierte Karussell von Laster und Eitelkeiten, das sich um Saufen, Stierkampf, Krieg und Tod dreht. Auf der anderen Seite die Vergötterung der Natur, die anmutigen Bäche in den Pyrenäen-Tälern, wo Jake Barnes, der Protagonist, angelt und Erdverbundenheit sucht.
The Sun Also Rises. Die Fiesta findet irgendwann ihr Ende. Das Blut des Spektakels ist noch