
Er gilt als Rabauke und Raufbold der Weltliteratur. Möglicherweise ist Ernest Hemingway dies zu Beginn seines Werdegangs auch gewesen. Doch dieser flegelhaft auftretende Kerl, er ist vom Jahrgang 1899, hat eine Entwicklung durchlaufen. Von der Kriegsfront im Ersten Weltkrieg über die Stierkämpfe in Pamplona und den Safaris in Ostafrika bis hin zum alten Mann ist es ein weiter Weg. Ebenso wie der von einem scheinfrommen Vorort von Chicago bis hin ins tiefgläubige katholische Kuba.
Möglicherweise erlebt er die Reifung vom selbstgewissen Rebellen hin zum aufrichtig Suchenden. In seinem Spätwerk – vor allem in Der alte Mann und das Meer aus dem Jahr 1952 – hat Hemingway uns Erzählungen hinterlassen, die vor religiösen Chiffren und gottesfürchtigen Metaphern nur so übersprudeln. Man muss indes sorgfältig lesen, denn der Entwicklungsprozess hin zu einem spirituellen Autor weiß der Amerikaner aus Oak Park gekonnt zu verstecken.
Da ist Santiago, der alte Mann aus Cojímar. Der schlichte Fischer kehrt zurück in das Heimatdorf, er hat seinen prächtigen Fang an die Haie verloren. Die Mühsal vieler Tage und Wochen ist umsonst gewesen. Der alte Fischer ist geschlagen, doch nicht gebrochen. Am nächsten Tag wird es ihn mit seinem schlichten Holzboot wieder auf das weite Meer ziehen. Zum Meer hin. Vom Meer heimkommen. Eine starke Metapher.
Das Meer nimmt den Menschen auf, an den meisten Tagen wirft es ihn zurück ins Leben. Niemand weiß, was der folgende Tag auf dem Meer bringen wird. Zumal selbst ein freudiger Abschluss einer Täuschung unterliegt. Über das große Ganze entscheiden andere, Fang und Rückkehr liegt nicht in den Händen des Menschen. Das Meer, was immer und wer immer auch damit gemeint sein mag, ist mächtiger.
La Mar. Umgangssprachlich nennen die meisten Fischer in Lateinamerika das Meer la Mar. Obwohl das Meer im Spanischen offiziell maskulin ist. El Mar. Auch der alte Fischer Santiago, so schreibt Ernest Hemingway in seinem Werk, dachte an die See immer an „la mar“, so nennt man sie auf Spanisch, wenn man sie liebt. Der alte Mann dachte immer an sie als etwas Weibliches, als etwas, was große Gunst gewährt oder vorenthalten kann.
Wie der Ausgangspunkt des Lebens erscheint das Meer, ebenso wie sein Endpunkt. Die Göttin der Liebe und der Schönheit – Aphrodite bei den Griechen und Venus bei den Römern – entsteigt traumhaft den Fluten. Das mit Blut und Samen vermischte Meereswasser schäumt auf und gebiert ein Lebewesen. Die schaumgeborene Göttin, die Herrscherin über Sexualität und Begierde, sichert die Fortpflanzung des Menschen.
Womit ein Pol des Lebens beschrieben wäre. Der andere Pol ist im Spanischen erstaunlicherweise feminin. La Muerte. Der Tod. Im Deutschen maskulin. Eigentlich verrät diese Konnotation die dahinter stehende Geisteshaltung. Das Mindset, wie es im modernen Sprachgebrauch heißt, verrät die Gesinnung der Hispanos. Viva la muerte, brüllen die Revolutionäre in allen Farben. Es lebe der Tod.
Am Meer geht es im Spanischen auch zu Ende. Volver al mar, klagen die Iberer altüberliefert, zum Meer zurückgehen. Und meinen damit, jetzt läuft es auf den Schlusspunkt zu. Die Philosophen sehen im Meer, das sich von den zufließenden Flüssen speist, aber nie überläuft, das Sinnbild für den Kreislauf des menschlichen Seins. Das Meer gibt und nimmt das Leben.
Das Meer ist mit einer Naturkraft ausgestattet, ohne die sich die Erde nicht drehen könnte. Es ist mächtiger als der Mensch. Und deshalb hat Hemingway zu Ende seines Lebens eine Erzählung zu Papier gebracht, in der kein